Die Oscar-Favoriten 2012: Die Nostalgie triumphiert über die Gegenwart

In der Nacht auf Montag werden die 84.Academy Awards vergeben. Sollte der französische Quasi-Stummfilm »The Artist« gewinnen, wäre das historisch angemessen.

Lohnen sich Oscar-Wetten noch? In den letzten Jahren gab es kaum Überraschungen bei der Gala, die Buchmacher behielten immer recht – und in der Internet-Ära kann jeder auf Mausklick die Quoten dies- wie jenseits des großen Teichs abfragen. Immerhin da gibt es noch ein paar Abweichungen: In Europa, insbesondere natürlich in England, wird Meryl Streep mit ihrem Porträt von Margaret Thatcher in „The Iron Lady“ für den Darstellerinnen-Oscar favorisiert, in den USA liegt die Afroamerikanerin Viola Davis für ihre Rolle im Disney-Bürgerrechtsdrama „The Help“ haushoch vorn. Das hat wahrscheinlich mehr mit transatlantischen Perspektivenunterschieden zu tun als mit letzten Entwicklungen im Oscar-Rennen. Überhaupt gibt es ein Wort, das man in Bezug auf die diesjährigen Oscars vermeiden sollte: Aktualität.

Von neun Nominierten für den besten Film spielt genau einer in der Gegenwart: die Hawaii-Komödie „The Descendants“, die George Clooney den überfälligen Sympathie-Darsteller-Oscar eintragen könnte. Sonst sind der 9/11-Kitsch „Extrem laut und unglaublich nah“ und der Baseball-Film „Moneyball“ (der die Saison 2002 der „Oakland Athletics“ zum Vorbild hat) vergleichsweise radikal gegenwärtig. Zugegebenermaßen spielen auch Teile von Woody Allens „Midnight in Paris“ und von Terrence Malicks „The Tree of Life“ im Hier und Jetzt, aber bei Allen geht es um die Sehnsucht nach dem Paris der 1920er, bei Malick zurück in die Welt seiner Kindheit in den 1950ern (er ist auch der Einzige, der dem Zuseher so etwas wie ein kritisches Verhältnis zur gezeigten Vergangenheit abverlangt). Bleiben der weichgezeichnete 1960er-Süden von „The Help“ und Steven Spielbergs Pathos-Pferdeoper über den ersten Weltkrieg, „Gefährten“. Und natürlich die zwei Favoriten: Martin Scorseses Kinderfilm „Hugo“ (mit elf Nominierungen) und der Quasi-Stummfilm „The Artist“ (mit zehn). Beide handeln vom frühen Kino, und der Oscar mag Filmgeschichte-Eigenlob: Für Scorsese ist die 3-D-Historienfantasy ein Vehikel, um den Pariser Kinopionier Georges Méliès zu feiern (und implizit ein noch größeres Anliegen: die Frage nach der Erhaltung der Filmgeschichte, die in der digitalen Ära mit neuen Bedrohungen konfrontiert ist). „The Artist“ ist sauber gemachte Pastiche-Nostalgie vor dem Hintergrund von Hollywoods Übergang zum Tonfilm.


Historischer Auftrag. Der nominelle Außenseiter „The Artist“ – eine französische Produktion, originalgetreu in Schwarz-Weiß, mit dem alten Kinobildverhältnis von 4:3 und (fast) ohne Ton gedreht – ist mittlerweile haushoher Favorit. Das liegt weniger an seiner angeblichen Originalität, denn Pseudostummfilme erscheinen alle Jahre, sondern an seiner Publikumsfreundlichkeit, und vor allem an der Virtuosität von Produzent und Verleiher Harvey Weinstein, der mittlerweile als Meister der (schon für eine Nominierung unerlässlichen) Oscar-Kampagnen gilt und seine ganze Macht heuer hinter den vermeintlichen David inmitten von Hollywood-Goliaths geworfen hat. So gilt als fast schon ausgemacht, dass der letztes Jahr nur in Frankreich berühmte Regisseur Michel Hazanavicius Scorsese den zweiten Regie-Oscar wegschnappen wird und auch dem als Stummfilmdarsteller groß aufspielenden Jean Dujardin werden Chancen eingeräumt, Clooney den sicher geltenden Preis noch zu entreißen.

Und sollte „The Artist“ als erster Stummfilm seit dem Gründungsjahr der Oscars 1929 gewinnen, wäre ein historischer Auftrag erfüllt: Ins Leben gerufen wurde der Preis nämlich als Eigenwerbung in einer Zeit, als unabsehbare Umwälzungen durch eine neue Technik drohten. Damals war es der Stummfilm. Heute ist es die Digitalisierung.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.02.2012)

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