Auf Seite eins und für die Quote

Die Scheinheiligkeit diverser Medien im Umgang mit Natascha Kampusch ist gewöhnungsbedürftig.

Das Wort zur Sonntagsdiskussion „Im Zentrum“ kam von Reinhard Haller. Der aus Dornbirn zugeschaltete Gerichtspsychiater stellte fest: „Dieser Fall ist derart emotionalisiert, dass eine vernünftige Wertung nicht mehr erfolgen kann. Natascha Kampusch hat das Recht, in Ruhe gelassen zu werden.“ Moderator Peter Pelinka fühlte sich offenbar angesprochen und relativierte: „Zumindest die, die sich ehrlich mit dem Fall beschäftigen, wollen längst Ruhe für Kampusch.“ Er hat damit vermutlich sich und sein Umfeld gemeint; einige Details hat er aber beiseite gelassen: etwa dass er, der als „News“-Chef das Thema gerade erst wieder auf Seite eins („Jagd auf Natascha“) gehievt hat, und seine Stellvertreterin als Autorin der Kampusch-Biografie eher nicht dazu beitragen, dass das Opfer zur Ruhe kommt. Das Blatt ist bis heute stolz darauf, die Entführte nach ihrer Befreiung 2006 als Erstes und noch vor dem ORF interviewt zu haben.

Apropos ORF. „Im Zentrum“ am Sonntag sollte sichtlich Appetit auf das Kampusch-Interview mit Christoph Feurstein tags darauf machen. Feurstein gab den engen Vertrauten von Kampusch, kritisierte die Verschwörungstheoretiker, die zum Teil wirklich abstruse Dinge behaupten – und zerrte die Betroffene wieder vor die Kamera. Das Interview war passabel, keine Frage. Er stellte ihr auch die unangenehmen Fragen, die nach Mittätern und einer angeblichen Schwangerschaft. Kampusch hat tapfer (und bestens gebrieft) geantwortet, aber wem außer den Boulevardzeitungen, die am nächsten Tag damit titelten, hat dieses Interview etwas gebracht?

Es ist nicht einfach für Medien, vor lauter Verschwörungen, Aktendetails und Politikern den Überblick zu behalten: Was ist berichtenswert, was nicht? Wirklich scheinheilig ist es aber, Ruhe für Kampusch zu fordern und selbst Auflage und Quote mit ihr zu machen.

E-Mail:anna-maria.wallner@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.03.2012)

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