Die Anklageschrift gegen Anders Behring Breivik, verantwortlich für die Attentate in Oslo vom Juli 2011, wurde gestern veröffentlicht. Auf ihn wartet vermutlich Zwangseinweisung in eine psychiatrische Anstalt.
Vorsätzliche Tötung in 77 Fällen unter „besonders verschärfenden Umständen“, Terror gegen öffentliche Institutionen, schwere Sachbeschädigung, Verbreitung von Schrecken und Todesangst: Die Anklageschrift gegen den rechtsradikalen mutmaßlichen Massenmörder Anders Behring Breivik, die diesem am Mittwoch im Osloer Ila-Gefängnis zur Kenntnis gebracht wurde, hat keine Parallele in Norwegens Geschichte, seit 1945 der Naziführer Vidkun Quisling als Landesverräter hingerichtet wurde.
Auf Breivik (33) wartet vermutlich Zwangseinweisung in eine psychiatrische Anstalt. Die Ankläger gehen davon aus, dass er in psychotischem Zustand gehandelt habe und nicht zurechnungsfähig sei. Die Staatsanwälte Inga Bejer Engh und Svein Holden lassen sich aber eine Tür offen: Falls „neue Umstände“ dafür sprächen, behalten sie sich vor, statt Verwahrung in der Psychiatrie die Höchststrafe von 21 Jahren Haft zu beantragen.
Nachdem ein erstes psychiatrisches Gutachten Breivik als paranoid schizophren eingestuft hatte, ordnete das Gericht eine zweite Untersuchung an. Sämtliche Gutachter werden in dem Prozess, der am 16. April beginnen soll, aussagen. Davon wollen die Ankläger ihren Strafantrag abhängig machen.
Wiederaufrollung des Grauens
Die Anklageschrift rollt die Verbrechen wieder auf, die am 22. Juli 2011 Norwegen erschütterten: Wie Breivik erst eine in einem Lieferwagen versteckte Bombe im Osloer Regierungsviertel detonieren ließ, dann nach Utøya fuhr, einer Insel, auf der die sozialdemokratische Jugend ihr Sommerlager hielt, und dort 80 Minuten lang in einer falschen Polizeiuniform auf die Jugendlichen schoss, ehe die Polizei eintraf und der Täter sich ergab.
Acht Menschen wurden durch die Bombe getötet, 69 auf Utøya erschossen – 56 davon waren im Alter von 14 bis 20 Jahren. Die Toten und die 42 Verletzten stehen namentlich in der Anklageschrift. Hunderte Mordversuche, bei denen Breivik Opfer verfehlte, bleiben ungesühnt, um den Prozess nicht unüberschaubar zu machen: Insgesamt waren laut Anklage rund 325 Menschen zum Tatzeitpunkt im und in unmittelbarer Nähe des Osloer Regierungsgebäudes sowie 564 Personen auf Utøya. Die Verletzungen, die viele Camp-Teilnehmer auf der Flucht erlitten, sowie psychische Folgen bleiben in der Anklage unerwähnt, was viele kritisierten.
Breivik habe die Verlesung des 19-seitigen Dokuments „ruhig“ zur Kenntnis genommen, sagte Jo Nielsen, Leiter der polizeilichen Breivik-Ermittlungskommission. Breiviks Anwalt Geir Lippestad will indes – auf Wunsch seines Klienten – auf „zurechnungsfähig“ plädieren. Er will mildernde Umstände geltend machen, da Breivik gegenüber der Polizei kooperationsbereit gewesen sei: Immerhin habe er während des Gemetzels mehrfach bei der Polizei angerufen, um sich zu ergeben, und er habe die jüngsten Lagerteilnehmer verschont. Es sei seine Aufgabe, alle Argumente, die für seinen Klienten sprächen, vorzubringen, sagte Lippestad. Dass dies strafmindernd sein könnte, gilt angesichts des Ausmaßes des Verbrechens als ausgeschlossen.
Schuldspruch steht fest
Da am Schuldspruch kein Zweifel besteht, konzentriert sich das Interesse vor dem auf zehn Wochen anberaumten Prozess auf das Urteil: Ist Breivik unzurechnungsfähig, müssen Ärzte alle drei Jahre seinen psychischen Zustand prüfen. Theoretisch könnte er freikommen, sobald er als gesund gilt; das muss aber von einem Gericht beschlossen werden, und schon die Anklageschrift betont die Wiederholungsgefahr. Effektiv wäre lebenslange Verwahrung möglich.
Bei Schuldfähigkeit warten 21 Jahre Gefängnis. Auch danach könnte Breivik in Verwahrung bleiben, falls er weiter als gefährlich gilt. Breivik hat seine Taten gestanden, bestreitet aber jede Schuld, da er sich aufgrund eines Kriegs gegen Multikulturalismus, Marxismus und „islamische Machtübernahme“ legitimiert sieht.
Empörung wegen „Brevik“-Geschäft
In Deutschland sorgt im Vorfeld des Breivik-Prozesses das Modelabel „Thor Steinar“, dessen Textilien mit germanisch-nordischen Motiven in rechtsextremen Kreisen beliebt sind, für Wirbel: In Chemnitz eröffnete jüngst eine Filiale namens „Brevik“; Thor-Steinar-Filialen sind stets nach Namen norwegischer Orte benannt, und Brevik ist ein Dorf südlich Oslos. Wegen der Namensähnlichkeit mit dem Attentäter gab es aber Proteste; am Dienstag wurde der Laden darauf in „Tønsberg“ umbenannt. [Internet]
("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.03.2012)