Literatur

Graphic Novels: Zum Lesen gezeichnet

Ab einem gewissen Alter sind Bilder in Büchern verpönt. Stimmt nicht mehr. Denn Comics sind jetzt erwachsen geworden.

Der Polizist auf dem Bild hebt mehrere schwere Steine hoch und steckt sie in die Manteltaschen eines Fremden. „Uff, uaaah, blob“, wäre vermutlich jetzt woanders gestanden. Vielleicht hätte sich das Opfer auch in einen Superhelden verwandelt und wäre fortgeflogen. Jetzt bleibt es aber auch im nächsten Bild regungslos liegen. „One, two, three“, zählt der Polizist und wirft den Mann ins Meer. Der Superheld wird nie kommen, dafür ertrinkt der Mann auf zwei weiteren Bildern. Dann ist alles schwarz.  

Bilder wie diese erobern derzeit die Bücher- und Verkaufsregale im deutschen Sprachraum. Anders als die oft als „seicht“ abgetanen Comics zählen Graphic Novels nämlich zum neuen Trend auf dem Büchermarkt. Dabei sind sie quasi die erwachsene Version der Comics, denn auch sie werden in Bildern erzählt, besitzen aber zumeist ein festes Hard- oder Softcover, ihre Geschichten sind weniger klamaukig und beinhalten ganze Romane, Reportagen, Biografien oder Sachbücher.

„Das Wort ,Graphic Novel‘ ist sicher auch ein Marketingbegriff, um Leser, die vorher Scheu hatten, Comics zu lesen, dafür zu begeistern“, sagt Christian Maiwald vom deutschen Verlag Reprodukt. Reprodukt hat sich auf das Verlegen von Comics und Graphic Novels spezialisiert – und profitiert jetzt vom Aufschwung des neuen Büchertrends. „Wir selbst haben solche Bücher ja schon vor 20 Jahren verlegt“, sagt Maiwald. Aber damals wäre die Qualität dieser Form einfach noch nicht verstanden worden. „Damals galt das Erzählen in Bildern einfach als oberflächlich.“ 

Mittlerweile sei das anders. Graphic Novels wie „From Hell“ oder „Watchmen“ vom Amerikaner Alan Moore behandeln zum Teil komplexe Geschichten und haben auch in einer breiteren Öffentlichkeit Kultstatus erreicht. Die zahlreichen Marvel-Verfilmungen, die zu Hollywood-Blockbustern wurden, haben wohl den Rest dazu beigetragen. Erzählte Bildgeschichten als neue Form der Literatur sind schon längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen.

Eine Iranerin ist schuld. Wann es zu diesem Aufschwung gekommen ist, kann Maiwald nicht erklären: „Für mich war ein Knackpunkt die Veröffentlichung von ,Persepolis‘“, sagt er. In dem französischen Comics erzählt die Iranerin Marjane Satrapi, die heute in Paris lebt, über ihre Kinderheit im Iran vor dem Hintergrund der Islamischen Revolution und ihrem späteren Leben im Exil. „Durch den politischen Hintergrund haben sich wohl mehr Menschen dafür interessiert“, sagt Maiwald. Mit dem gesteigerten Interesse hätten auch die deutschen Verlage die Graphic Novels für sich entdeckt – und erste Versuche mit einzelnen Buchprojekten in der Sparte gewagt.

Sogar der renommierte Suhrkamp Verlag ist mittlerweile in das Business eingestiegen. Er brachte unlängst Thomas Bernhards „Alte Meister“ von Nicolas Mahler als Graphic Novel auf den Markt. Eine Antwort auf Vorreiter wie den Knesebeck Verlag, der schon 2010 Franz Kafkas „Die Verwandlung“ in Bildern erscheinen ließ. Auch Khaled Hosseinis „Drachenläufer“ von Fabio Celoni und Mirka Andolfo (Bloomsbury) oder Schnitzlers „Fräulein Else“ von Manuele Fior (Avant) sind mittlerweile als Graphic Novels erhältlich. Umgekehrt gewann Brian Selznicks „The Invention of Hugo Cabret“ (Scholastic Press) als Hollywood-Verfilmung in diesem Jahr gleich fünf Oscars.

TIPPS

Wobei nicht jede Graphic Novel aus Liebe zur bildnerischen Lesekunst umgesetzt wird. Der Suhrkamp Verlag gibt laut der „Süddeutschen Zeitung“ offen zu, Leser so an schwierige Literatur heranführen zu wollen. Und auch Christian Maiwald sieht die Flut an neu aufgelegten Literatur-Graphic-Novels ein bisschen kritisch: „Man kann schon glauben, dass Graphic Novels nur aus Klassikern oder Biografien bestehen“, sagt er. Das spiegle aber die Branche nicht wider. „Denn die besteht zum Großteil aus eigenen Kreationen. Und hat ihr volles Potenzial noch lange nicht ausgeschöpft.“

Ein Standbein für die Zukunft. Auch der Berliner Verlag Jacoby & Stuart versucht derzeit in der Graphic-Novel-Welt Fuß zu fassen: Eben ist hier „Rosa Winkel“, eine Geschichte über Homosexuelle in der NS-Zeit, erschienen. Und der bekannte französische Autor und Illustrator Blexbolex gibt in „Niemandsland“ eine düstere Bestandsaufnahme der Machenschaften unserer Zeit: Verschwörungen, Bankenmacht, Geheimdienste, Krieg, esoterische Religionen.

Für Verleger Edmund Jacoby sind die Graphic Novels „eine andere Art, Bücher zu lesen“, weil durch das gleichzeitige Sehen und Lesen „das Lesererlebnis dichter wird“. Auch die zum Teil historisch sehr genau recherchierten Zeichnungen sieht er als Mehrwert: „Da werden zum Teil ganze Straßenzüge genau nachgebildet“, erzählt er.
Als Verleger der Bücher müsse er daher immer darauf achten, dass sich eine Geschichte auch in Bildern erzählen lässt. „Es gibt ja auch Bücher, die sich nicht fürs Verfilmen eignen“, sagt er. Christian Maiwald sieht es ähnlich: „Gute Bilder allein machen noch lange keine gute Graphic Novel aus“. Das Zusammenspiel von Geschichte und Stil müsse passen. „Nicolas Mahler ist ja auch deshalb so bekannt, weil sein minimalistischer Stil eine Stimmung vermittelt“, sagt er.

Keine E-Books. Dass Graphic Novels im Moment so beliebt sind, wundert Edmund Jacoby von Jacoby & Stuart jedenfalls nicht. „Es war schon längst überfällig. In Frankreich oder England sind sie, was Graphic Novels und die Illustration von Büchern betrifft, schon viel weiter.“ Und: „Unseren Kindern wird ja noch immer beigebracht, dass ab einem gewissen Alter in Büchern keine Bilder mehr zu sein haben.“

Ökonomisch gesehen bedeuten die neuen Bücher für den Deutschen jedenfalls eine angstfreiere Zukunft: „Graphic Novels verkaufen sich nicht als E-Books. Die Leser wollen das Buch tatsächlich in der Hand halten.“ Für die angeschlagene Verlagsbranche sei das ein gutes Standbein.

Dieser Meinung ist auch Christian Maiwald, auch wenn er noch immer keine Graphic Novel kennt, die es zum Bestseller gebracht hätte. Für die Zukunft will er das aber nicht ausschließen: „Es wird immer neue Leserschaft erschlossen.“ Denn auch ältere Leser würden immer größeren Gefallen an den Bildstreifengeschichten finden. „Die Wahrnehmung, was erzählerisch mit Comics möglich ist, hat sich einfach verbessert“, sagt Maiwald. Es war ein langer Weg bis zu dieser Erkenntnis. „Insofern“, fügt er hinzu, „ist es jetzt besonders schön zu sehen, dass das jetzt Früchte trägt.“

„Watchmen“ von Alan Moore (Text) und Dave Gibbons (Bild) zählt zu den Vorreitern der Graphic-Novel-Szene (DC Comics).

„From Hell“ erzählt die Geschichte der Jagd auf Jack the Ripper (Top Shelf Productions).

In „Niemandsland“ beschäftigt sich der Franzose Blexbolex mit Korruption und üblen Machenschaften (Jacoby & Stuart).

„Rosa Winkel“ handelt von der Verfolgung Homosexueller während der Nazizeit. (Jacoby & Stuart).

„Roxanne & George.“ Sätze wie „Are you a hipster?“ „Fuck, no!“ von Carolin Walch sagen wohl alles. (Reprodukt)

„Im Land der verlorenen Erinnerungen“ sucht der Held von Stéphane Poulins nach Frieden. (Jacoby & Stuart).

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