Fukushima ist noch immer eine Glaubensfrage

Die Debatte über die Nutzung der Atomenergie leidet an einem unvermeidlichen Rationalitätsdefizit. Und sie endet immer mit der Frage: Rückzug oder Anpassung?

Ein Jahr nach dem großen Erdbeben in Japan und der Reaktorkatastrophe von Fukushima sind wir auch nicht klüger als am Tag des Unglücks. Denn noch immer gibt die Interpretation der Ereignisse und ihrer Folgen fast ausschließlich Auskunft über den ideologischen Standpunkt des Interpreten. Wer immer schon der Ansicht war, dass der Mensch durch die Nutzung der Atomkraft auf fahrlässige Weise die Grenzen der Gattung überschreitet, weil er unkalkulierbare Risken eingeht, fühlt sich bestätigt. Wer immer schon der Meinung war, dass diese Risken überschätzt werden und auch der größte anzunehmende Unfall (GAU) nur begrenzte und überschaubare Folgen für Mensch und Umwelt hat, sieht sich ebenfalls bestätigt.

Beide meinen aus guten Gründen, dass sie recht haben. Atomkraftwerke bergen in der Tat ein Risiko, das sich prinzipiell der Kalkulierbarkeit entzieht. Und Fukushima hat tatsächlich gezeigt, dass die unmittelbar nach dem Unfall erstellten Horrorprognosen nicht zutreffend waren. 16.000 Menschen starben an den Folgen von Erdbeben und Tsunami, kein Einziger an den Folgen des Reaktorunglücks. Statistisch bedeutet das zunächst einmal nur, dass es riskanter ist, an der japanischen Küste als in der unmittelbaren Umgebung eines Atomkraftwerks zu leben.

Globalisierung heißt offensichtlich, dass die politischen Auswirkungen einer Natur- und Atomkatastrophe in der Provinz Fukushima im fernen Deutschland größer als am Unglücksort selbst sind: Der schwarz-gelbe Beschluss über den mittelfristigen Ausstieg aus der Atomenergie folgte einigermaßen nahtlos auf den schwarz-gelben Beschluss der Laufzeitverlängerung für deutsche Atomkraftwerke, der seinerseits den rot-grünen Beschluss über den langfristigen Ausstieg aus der Atomkraft revidierte. Was das mittelfristig für die deutsche Energie- und Industriepolitik bedeutet, lässt sich schwer absehen – ganz so, wie die realen Gefahren, die der Betrieb von Atomreaktoren birgt.

Im Rückblick zeigt sich, dass die Debatte über Chancen und Risken der Energiegewinnung aus Atomkraft an einem Rationalitätsdefizit leidet. Man kann nur glauben, dass in der Nutzung der Atomenergie die Selbstzerstörung des Menschen und der Erde grundgelegt ist. Man kann auch nur glauben, dass Atomkraft die sauberste, sicherste Form der Energiegewinnung ist. Wissen kann man es nicht. Man kann nur feststellen, dass in der bisherigen Geschichte der Menschheit keine andere Form der Energiegewinnung so wenige Menschenleben wie die Energiegewinnung aus Atomkraft gefordert hat.

Man sollte nicht vergessen, dass das Reaktorunglück von Fukushima zum abrupten Ende einer regelrechten Renaissance der Pro-Atomkraft-Stimmung in der öffentlichen Debatte geführt hat. In den Jahren davor hat zunehmend die Überzeugung Platz gegriffen, dass die exponentielle Zunahme der Energienachfrage vor allem in den Schwellenländern angesichts der als unmittelbar empfundenen Bedrohung des Weltklimas durch die zu geringe Eindämmung des CO2-Ausstoßes kaum anders als durch einen Ausbau der Atomkraft zu bewältigen sein würde.


Man kann die Dynamik der Atomenergie-Debatte wahrscheinlich überhaupt nur im Kontext der Klima-Debatte erfassen. Auch die leidet ja unter einem erheblichen Rationalitätsdefizit. Auf diesem Feld wird ebenfalls versucht, in der Hypothesenbildung den Mangel an wissenschaftlicher Prognosekapazität durch das Setzen moralischer Konstanten wettzumachen. Auch hier sagt die Interpretation des spärlichen empirischen Materials mehr über die weltanschaulich-ethische Konstitution der Akteure als über die Wirklichkeit aus.

Am Ende stellt sich in beiden Feldern dieselbe Frage: Sollen wir Wissen, Geld und Leidenschaft investieren, um einen Schritt zurückzugehen, oder sind diese Ressourcen besser eingesetzt, wenn wir sie in die Suche nach Möglichkeiten zur Adaption an die durch menschliche Eingriffe verursachten Änderungen investieren?

Der Erfahrungsschatz der Menschheitsgeschichte spricht für den Weg der Adaption.

E-Mails an: michael.fleischhacker@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.03.2012)

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