Shigeo Iwatani, Japans Botschafter in Wien, hofft auf internationales Know-how beim Wiederaufbau der verwüsteten Gebiete.
Die Presse: Herr Botschafter, welche Lehren hat Japan aus der Katastrophe vom 11. März 2011 gezogen?
Shigeo Iwatani: Ich denke, dass wir aus dieser Erfahrung viel gelernt haben. Konkret müssen wir unsere Haltung ändern. Vor der Erdbeben-, Tsunami- und Atomkatastrophe konnten sich die meisten Experten ein derartiges Ausmaß der Zerstörung gar nicht vorstellen. So eine Fehleinschätzung dürfen wir uns nicht mehr leisten.
Es war also ein kollektives Versagen der Vorstellungskraft...
Ganz genau. Wir müssen von nun an auch das Undenkbare denken. Der Tsunami, der vor einem Jahr weite Küstenabschnitte verwüstete, war stellenweise 14 Meter hoch. Und unsere Seismologen gehen mittlerweile davon aus, dass Tokio in den kommenden 30 Jahren von einem Großbeben heimgesucht werden dürfte, die Wahrscheinlichkeit dafür liege bei 70 Prozent. Wir müssen uns auf jede nur erdenkliche Gefahr vorbereiten.
War die Atomkatastrophe von Fukushima der Todesstoß für die japanische Nuklearindustrie?
Derzeit ist es nicht absehbar, was genau mit jenen Kernkraftwerken passieren wird, die nach Fukushima vom Netz genommen wurden. Eines ist aber gewiss: Wir können uns einen Ausstieg aus der Kernkraft zum jetzigen Zeitpunkt nicht leisten. Die Konsequenzen wären Engpässe bei der Stromversorgung und Umweltschäden infolge der Verbrennung fossiler Energieträger. Wir brauchen einen guten Energiemix, der auch erneuerbare Quellen miteinbezieht, aber auch die Kernkraft. Die Regierung ist momentan dabei, die bestehende Energiepolitik zu evaluieren. Bis zum Sommer sollte die neue Strategie festgelegt werden.
Was passiert nun mit jenen Menschen, die aus der unmittelbaren Umgebung von Fukushima evakuiert werden mussten?
Das Gebiet im Radius von 20 km rund um das Kraftwerk muss dekontaminiert werden. Wie lange das dauern wird, kann momentan niemand sagen. Sobald es gelingt, den verstrahlten Boden zu entsorgen, können die Menschen zurückkehren.
Und werden sie zurückkehren wollen?
Das weiß ich nicht.
Wie steht es um die japanische Wirtschaft: Hat sie die Folgen der Katastrophe überwunden?
Makroökonomisch betrachtet, ja. Aber in den betroffenen Gebieten haben sehr viele Menschen ihre Arbeitsplätze verloren. Wir bemühen uns nun, Investoren für den Wiederaufbau zu gewinnen – sowohl aus Japan als auch aus dem Ausland. Internationales Know-how ist da sehr willkommen.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.03.2012)