Fukushima, Sendai, 13. März 2011: Ein persönlicher Vergleich zweier Katastrophen

Fukushima Sendai 13Maerz 2011
Fukushima Sendai 13Maerz 2011(c) Dapd (Tokyo Electric Power Company)
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Zwei Tage nach dem Beben stand ich in Fukushima und interviewte Einheimische. Weitaus dramatischer war der Besuch in den vom Tsunami zerstörten Gebieten: von weinenden Männern, einsamen Kindern und fehlender Hilfe.

Der Himmel über Fukushima ist sonnig, die Luft eiskalt. Es ist ein Sonntag, der 13. März 2011. Die Straßen der Stadt, etwa 40 Kilometer vom gleichnamigen Atomkraftwerk entfernt, sind menschenleer. Immer wieder rasen Einsatzfahrzeuge über die mehrspurige Hauptstraße: „Öffnen Sie keine Fenster! Hängen Sie keine Wäsche im Freien auf!“, schallt es aus den Lautsprechern.

Ich stehe vor einem der wenigen geöffneten Kaufhäuser und spreche mit ein paar Einheimischen. Sie haben ihre Wohnungen kurz verlassen, um Heizöl zu kaufen. Es ist winterlich in Fukushima, nachts kühlt es auf minus fünf Grad ab. „Ich habe Angst“, sagt der 78-jährige Herr Omaya mit zittriger Stimme. Seine Enkelin wartet zu Hause auf ihn. Sie ist schwanger. „Ich hoffe nur, dass sie nicht verstrahlt ist.“

Auch ein Jahr später fragt meine Familie, fragen meine Freunde und Bekannten immer wieder, ob ich mir damals des eingegangenen Risikos eigentlich bewusst war. Ob es nicht ein wenig unverantwortlich gewesen sei, am Tag des gewaltigen Erdbebens sofort nach Japan zu fliegen, um zu berichten, und auch noch einige Tage vor Ort zu bleiben, als eine nukleare Katastrophe, ein Super-GAU, möglich schien. Schließlich habe die große Gefahr bestanden, dass ich „verstrahlt wieder zurückkomme“.

Ist es nicht Pflicht zu bleiben?

Selbst wenn das stimmen sollte, ruft diese Frage auch heute noch großes Unbehagen in mir hervor. Ich habe mich nur einige Stunden in Fukushima selbst und drei Tage in einem Umkreis von weniger als 200 Kilometern aufgehalten. Das eingegangene Risiko war klar kalkuliert, die Rechnung sah in etwa so aus: Verliere ich mein Leben, sterben viele Millionen Menschen mit mir. Denn zumindest fünf Millionen Japaner hielten sich ähnlich nahe wie ich bei dem beschädigten Atomkraftwerk auf.

Fukushima ist nicht mit einem Kriegsgebiet vergleichbar, in dem Journalisten oft bleiben, obwohl die Zivilbevölkerung längst geflüchtet ist. Sollte in Fukushima die größtmögliche Gefahr bestanden haben, dann ging es um das Schicksal einer riesigen Nation. Abgesehen davon, dass die Zahl der durch die Atomkatastrophe Getöteten auch ein Jahr später noch bei exakt null liegt und sich die schlimmsten Befürchtungen als unberechtigt herausgestellt haben: Ist es nicht die Pflicht eines Journalisten, von so einer Situation, die so viele Menschen betrifft, ordentlich vom Ort des Geschehens zu berichten?

Hier ist zweifelsohne der falsche Platz, um über Sinn oder Unsinn von Atomkraft zu philosophieren. Aber ein paar Fragen sollten sich jene, die seit einem Jahr über die „unglaubliche Katastrophe von Fukushima“ sprechen, schon stellen: Was ist mit der Katastrophe von Sendai, der Millionenstadt, die der gewaltige Tsunami nahezu dem Erdboden gleichgemacht hat? Oder der Katastrophe von Rikuzen Takata, der einst 23.000 Einwohner zählenden Hafenstadt nördlich von Sendai, die zumindest ein Fünftel ihrer Bevölkerung am 11. März 2011 verloren hat?

Es sind die Bilder von Menschen aus Sendai oder Rikuzen Takata, die mich auch heute noch nachts aufwachen lassen. Das kleine Kind beispielsweise, keine vier Jahre alt, das auch am 15. März noch im Turnsaal der Hauptschule von Rikuzen Takata sitzt und nach seinen Eltern ruft, die es nie wieder sehen wird.

Oder Yuki Takahashi, der weinend vor einem meterhohen Müllhaufen kniet. Laut ruft der junge Mann nach seiner Schwester und seinen Eltern, die zum Zeitpunkt des meterhohen Tsunamis in dem einst schönen Einfamilienhaus waren, das nun einem Trümmerhaufen gleicht. Laut schreit Takahashi in alle Welt hinaus: „Warum hilft uns denn niemand, warum hilft uns denn niemand.“

Ja, warum? Sollte man vielleicht sogar so weit gehen, den Anti-Atomkraft-Lobbies eine Mitschuld zu geben? Bis zu einer Million Menschen waren nach dem Tsunami im Norden des Landes obdachlos, mehr als 15.000 tot. In Fukushima starb ein Arbeiter in dem Atomkraftwerk an einem Herzinfarkt, in etwa 100.000 mussten nach Errichtung der Sperrzone ihre Häuser verlassen. Und trotzdem: Nicht nur die Arbeit der Antiatom-Lobbies, sondern auch jene der Hilfsorganisationen konzentrierte sich zum größten Teil auf Fukushima, nicht auf die zerstörten Küstenstädte des Nordens.

Vergessene Tote und Obdachlose

Die Katastrophe von Fukushima ist zweifelsohne eine gewaltige. Die Gegend innerhalb der Sperrzone wird jahrelang nicht bewohnbar sein, das Leid der Geflüchteten ist riesig, und tausende Tiere mussten qualvoll verhungern, allein in ihren Ställen zurückgelassen. Ein Gespräch mit einem Landwirt aus Futaba, weniger als 20 Kilometer vom Kraftwerk entfernt, wird mir mit Sicherheit für immer in Erinnerung bleiben. „Mein Leben ist zerstört, meine Existenzgrundlage verschwunden“, sagte der Bauer unter Tränen.

Und trotzdem glaube ich heute, ein Jahr später, dass das größte Drama in Japan nicht in Fukushima stattfand. Wenn mich also jemand fragt, ob mein einwöchiger Aufenthalt nach dem Beben unverantwortlich war, lautet die Antwort: Nein, vielmehr hätte ich länger bleiben sollen. In Sendai, in Rikuzen Takata. Um noch mehr zu berichten, von der Gewalt des Tsunami; den hunderten Toten, die auch eine Woche nach dem Beben noch auf der Straße lagen; den hunderttausenden Obdachlosen, an die heute fast keiner mehr denkt. Weil die ganze Welt fast ausschließlich über die Katastrophe von Fukushima spricht.

Auf einen Blick

Stefan Riecher flog am Tag des Bebens, am 11. März 2011, nach Japan und berichtete als erster österreichischer Journalist am 13. März für die „Presse“ aus Fukushima. Am 14. März erreichte er Sendai, am 16. März Aomori im Norden Japans, von wo er die Rückreise antrat. [Riecher]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.03.2012)

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