Japans Fundamente sind ins Wanken geraten

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Fukushima ist nur einer von vielen Krisenfaktoren. Das ganze Gesellschaftsmodell hat sich überholt. Nippon ist tief verunsichert. Und Tokio fürchtet ein Megabeben.

Tokio fiebert im Bebentrauma. Äußerlich läuft vieles wieder normal, das hektische Leben, die Leuchtreklamen, die Leidenschaft für Technik. Aber in den Familien, in Firmen und auf dem Finanzmarkt beherrscht die Gefahr noch immer Denken und Diskussionen. Gemeint sind nicht die Katastrophe von Fukushima, die Killerwelle, der nukleare Albtraum, an dem die Industriemacht haarscharf vorbeigeschrammt ist. Dieses dramatische Kapitel ist zwar ein Jahr danach noch nicht Geschichte, aber aus dem Alltag der übrigen Nation weitgehend ausgeblendet. Tokio hat Angst um sich selbst. Seismologen beschreiben ein realistisches Horrorszenario. Seit den geologischen Verwerfungen vom 11. März 2011 ist die Chance eines Megabebens mit Stärke 7 oder mehr nahe der Metropole auf 70 Prozent gestiegen. Und zwar nicht irgendwann, sondern binnen vier Jahren. Mehr als die Hälfte der Tokioter fürchtet sich. Schon Fukushima warf Japan um Jahre zurück, ein ähnliches Beben in der Neun-Millionen-Einwohner-Stadt Tokio hätte unvorstellbare Konsequenzen.

Essen per Katalogversand boomt

Schon nach Fukushima war eine massive Absetzbewegung der in Japan lebenden Ausländer zu beobachten. Das Gros der deutschsprachigen Expatriates ging. Aus den meist in Tokio ansässigen deutschen und österreichischen Unternehmen verlautet, dass viele ausgereiste Mitarbeiter nicht zurückkamen. Die deutschsprachige Privatschule in Japan steht vor dem Ruin: Die 1904 etablierte elitäre Bildungsstätte sucht dringend Finanzhilfe. Nach dem Unglück wurde sie zeitweise geschlossen. Heute sind dort 130 Schüler, fast 75 Prozent weniger als vor Fukushima.

Für viele Japaner hat sich das Leben total verändert, wie sich im Supermarkt zeigt. Nur noch Lebensmittel aus „sicheren“ Regionen werden gekauft, in Tokio boomt der Katalogversand von Gemüse, Obst und Milchprodukten aus „gesundem Bioanbau“. Gourmets verschmähen das Wagyu-Beef; es könnte durch verstrahltes Futter belastet sein. Um die ökonomisch relativ unwichtige Bebenregion im Nordosten aufzurichten, plant die Regierung einen Kraftakt mit mehr als 275 Milliarden Euro. Selbst wenn dafür andere Projekte zurückgestellt werden, Staatsbesitz verscherbelt und Notanleihen aufgelegt würden: Japan hat das Geld nicht. Jedenfalls nicht ohne die kaum durchsetzbare Verdopplung der Mehrwertsteuer. Selbst deren Andeutung ließ die Umfragewerte von Premier Yoshihiko Noda unter 30 Prozent fallen. Vieles spricht dafür, dass er noch heuer abtritt, weil der ehemalige Finanzminister die Krise nur verwaltet, statt dem Land einen Ruck zu geben.

Deshalb ist Krisenfaktor eins: Japan muss sich damit abfinden, dass von der Politik keine ernsthafte Hilfe zu erwarten ist. Es gibt wenig zu verteilen. Zu inkompetent agiert die Politik, zu zerstritten sind die Parteien, zu wenig solidarisch ist das Volk. Krisenfaktor zwei: Die führende Exportnation fällt im globale Wettbewerb zurück. Erstmals seit drei Dekaden hat die drittgrößte Volkswirtschaft 2011 mehr Waren importiert als exportiert – das erste Handelsdefizit seit 1980. Maßgeblich schuld sind die extrem gestiegenen Energieimporte nach der schrittweisen Abschaltung fast aller AKW. Derweil geraten einstige Exportpioniere wie Toyota und Sony ins Hintertreffen. Fast alle marktführenden Konzerne bilanzieren rot oder haben massive Gewinneinbrüche. Diese Schlachtschiffe der Industrie ermöglichten einst Japans Aufschwung, heute bremsen sie ihr Land.

Krisenfaktor drei: Immer schneller wandert die Produktion ins Ausland ab, nicht nur wegen der Währungsvorteile gegenüber dem überbewerteten Yen, sondern weil sich innovative Ingenieurskraft, auf die Japan einst so stolz war, im nahen Ausland ballt. Die erdrückende Konkurrenz aus China und Südkorea, sicher auch der deutschen Autoindustrie, könnte die Schwäche zum permanenten Phänomen machen. „Die Gefahr, dass unser Land ausgehöhlt wird, ist so groß wie nie zuvor“, warnt selbst der Regierungschef.

Das Geschäftsmodell der Nippon AG hat sich überholt. Fukushima wäre auch deshalb eine Chance zum Neubeginn. Bisher wird sie nur zögerlich ergriffen. Das betrifft nicht nur die Frage, wie viel arbeitsintensive Produktion sein muss und wie viel wissensintensive. Es betrifft das Leben jedes Einzelnen: Im Rausch des wirtschaftlichen Aufstiegs unterschätzte man nicht nur die Erdbebengefahr, sondern generell den Sinn menschlichen Gemeinwesens sträflich. Nun werden Glaubensgrundsätze und Maßstäbe überdacht. Was ist lebenswert? Der Sechzehnstundentag der Arbeitsbiene, die Fabrik als Familienersatz? Die Regierung hat immer recht? Und: Ist Atomkraft sicher? Auf einmal werden in diesem so auf Harmonie bedachten Land massive Zweifel geäußert.

Das fernöstliche Kaiserreich steht an einer Bruchstelle, geologisch und gesellschaftlich. Leidenschaftlich pflegte Japan bisher den Mythos, über hervorragende Ingenieure, eine wettbewerbsfähige Industrie und effiziente Beamte zu verfügen – auf die Regierung kommt es dabei letztlich kaum an. Stimmt auch, wenigstens so lange alles wie geplant läuft. Aber was ist, wenn sich mehrere Störfaktoren potenzieren? Dann geraten die Fundamente ins Wanken.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.03.2012)

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