Albertina: Sex als melancholische Weltflucht

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Jeder Generation diese Erkenntnis: Gustav Klimt war ein phänomenaler Zeichner. Nach 50 Jahren zeigt die Albertina wieder ihre Bestände.

Dünne Vorhänge lassen nur milchiges, weiches Licht durch die Atelierfenster. Auf zwei Staffeleien stehen noch zwei unvollendete Gemälde, „Die Braut“ und „Dame mit Fächer“. Dahinter erkennt man ein breites Bett mit schwarz-weiß gestreiftem Überwurf. Davor stehen ein schlichter quadratischer Hocker und ein niedriges Zeichenpult. So hielt der Fotograf Moritz Nähr das Atelier Gustav Klimts in Hietzing direkt nach dessen Tod 1918 fest. Es ist ein Blick durch das Schlüsselloch in einen Ort, der in Wien um 1900 als einer der verruchtesten galt – das Atelier des teuersten Malers der Stadt, in dem dieser als „animalisch“ beschriebene, so exzentrisch wie verschlossene Kerl von einem Künstlergenie Orgien mit seinen nackt um ihn herumstreichenden Modellen feierte. Huch.

Das Foto selbst erzählt eher von einem schlichten Ort konzentrierten Arbeitens. Man sieht Klimt beinahe, wie er sich, gehüllt in seine alttestamentarisch anmutende Reform-Zeichenkutte, mit dem Zeichenpult in die richtige Position rollte, während auf dem Bett die Modelle seinen Anweisungen folgten. Und die dürften keine zimperlichen gewesen sein. Hier wurden Tabus gebrochen, hier posierten arme Wiener Wäschermädeln als Femmes fatales, als nackte Schwangere, als Lesbierinnen, als Masturbierende. Und Klimt hielt sie erst mit Kohle, später mit Bleistift fest. Täglich, nach einem bestimmten Zeitplan, wie seine Kalender zeigen.

Über 4000 Zeichnungen Klimts sind heute erhalten. Er wird um viele mehr geschaffen haben, das ist sicher, viele davon waren aber wohl Studien für Details. Doch auch die eigenständigen Blätter dienen heute meist nur als dekoratives Beiwerk in den großen Ausstellungen rund um Klimts populäre Gemälde (von denen es übrigens rund 250 gibt). Nur zu den Jubiläen scheint es, darf die Geduld des Publikums mit derlei Augenarbeit strapaziert werden, auch wenn diese so lustvoll ist wie bei diesem zeichnerischen wie malerischen Genie. Die letzte große Ausstellung von Klimts Grafik liegt 50 Jahre zurück, als in der Albertina sein 100. Geburtstag begangen wurde.

Klimt ohne Ornament und Dekor

Kuratorin war die mittlerweile verstorbene Klimt-Expertin Alice Strobl, die auch das Werkverzeichnis der Zeichnungen herausgab. Jetzt, zu Klimts 150. Geburtstag, führt Strobls ehemalige Assistentin, Maren Bisanz-Prakken, das Erbe weiter, sie stellt Klimt mit 160 Blättern vorwiegend aus dem hauseigenen Bestand als den dar, der er vor allem war, der er unter all dem Ornament und Dekor der Gemälde immer noch ist: „Ein phänomenaler Zeichner“. Und tatsächlich! Sei doch zumindest jeder Generation diese Erkenntnis aufs Neue gegönnt.

Allein die technische Brillanz, die Klimt vor allem in seinem historistischen Frühwerk ausspielt, ist atemberaubend. Wie sich in der Studie einer Nebenfigur der Burgtheater-Deckenmalereien der Kopf eines liegenden Mannes fast fotorealistisch aus der Fläche hebt. Oder wie sich im Spätwerk ein liegendes Modell im zittrigen Moment der größten Ekstase in elektrische Linien aufzulösen scheint. Dazwischen liegt eine künstlerische Revolution, die sich andeutet, wenn man auf Geheiß der Kuratorin in die halb geschlossenen Augen der ersten von Klimts stilbildenden Femmes fatales blickt, die Studie einer von orgiastischer Erschöpfung dahingeworfenen Mänade für den Dionysos-Altar der Ausstattung des südlichen Stiegenhaus des Burgtheaters (1886/87).

Klimts schamlose Darstellung von Sexualität als existenziellem Lebensmoment hat seinen jugendlichen Verehrer Egon Schiele wohl tief beeindruckt. Nackte Körper erstrecken sich ohne Anfang und Ende wie zarte Hügellandschaften und Flüsse über die Blätter, Köpfe und Füße oft abgeschnitten, die Glieder verschlungen, der Sex als Symbol eines Dahingleitens zwischen Leben und Tod. Was ihn entscheidend von den tausenden erotischen Zeichnungen Rodins unterscheidet, die in ihrer Manie wohl eher von einem Krankheitsbild sprechen. Bei Klimt ist alles Symbol für etwas Übergeordnetes, vielleicht ja die Ästhetik gewordene Sehnsucht nach einem Ausweg aus dieser Welt, den er, der kräftige Bursche aus einfachem Haus nur beobachten, aber nicht selbst wählen konnte: Diese damals so moderne melancholische Entrücktheit, die er bei den Bürgerdamen beobachtete, die er porträtierte.
Bis 10. Juni. Anschließend im Getty-Museum, Los Angeles, zu sehen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.03.2012)

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