Der Fall Gauck – oder: Die Angst der Schafe vor der Freiheit

Paradox: Je mehr der Staat die wirtschaftliche, politische und persönliche Freiheit seiner Bürger beschränkt, umso geringer wird deren Bedürfnis nach mehr Freiheit.

Man kann es natürlich auch für die in der Politik milieutypische Mischung aus großer Geste und leerem Pathos halten, wenn Joachim Gauck ausgerechnet den Begriff „Freiheit“ als das zentrale Leitmotiv seiner Präsidentschaft bezeichnet. Doch selbst wenn es – was angesichts des Mannes eher nicht zu vermuten ist – bloß eine Geste wäre, so wäre es bei näherer Betrachtung eine sehr merkwürdige Geste.

Denn in der deutschen Politik ist, genauso wie in der österreichischen, mit der Forderung nach mehr individueller Freiheit kein Blumentopf zu gewinnen, von Wählerstimmen und Wahlen ganz zu schweigen. „Frei zu sein ist anstrengend. Kein Wunder, dass die Freiheitszumutung von vielen als Überforderung erfahren und, wo immer möglich, gemieden wird“, urteilte jüngst der Autor Rainer Hank in der „FAZ“.

Politisches Terrain gewinnt man da ganz im Gegenteil nicht mit dem Versprechen von mehr Freiheit, sondern von mehr Gleichheit (siehe auch R. Taschners „quergeschrieben“ vom 22.3.) – und sei es die Gleichheit der vom Brutalsteuerstaat enteigneten Habenichtse.

Diese Gleichheit ist natürlich nur durch die Beschränkung der Freiheit des Einzelnen herstellbar (etwa der Freiheit, mittels niedriger Steuern über den von ihm erwirtschafteten Wohlstand selbst zu verfügen). Genauso wie umgekehrt gilt, dass ein hohes Maß an ökonomischer Freiheit zwangsläufig das Ausmaß der Ungleichheit erhöhen muss. Das freilich ist im deutschen Sprachraum außerordentlich unbeliebt: Darum ist ja die Mehrheit stets bereit, die Freiheit (vorzugsweise der anderen) auf dem Altar der Gleichheit zu opfern. Wenn einer wie Gauck einem Mehr an Freiheit das Wort redet, nimmt er daher implizit ein Weniger an Gleichheit in Kauf. Noch mehr Sakrileg ist kaum möglich.

Dass der Mann trotzdem schon jetzt zum „Präsidenten der Herzen“ hochgejazzt wird, sagt deshalb vor allem etwas über das Vakuum in den Köpfen vieler seiner medialen Groupies aus, für die „Freiheit“ bloß eine politische Hülsenfrucht ist, die sich bei der medialen Massenausspeisung in der ideologischen Volksküche des Sozialstaates vermeintlich problemlos als Beilage zum populären Hauptgericht „Gleichheit“ eignet. Von wegen.

Einer wie Gauck steht daher eigentümlich quer gegen den Zeitgeist. Denn Freiheit in seinem Sinne haben wir in der jüngeren Vergangenheit in rauen Mengen aufgegeben: wirtschaftliche Freiheit, indem die Staats- und Abgabenquote weit über jedes akzeptable Maß hinaus aufgebläht worden ist, politische Freiheit, indem demokratische Mitbestimmung von einer vermeintlich krisenbedingten „Alternativenlosigkeit“ niedergewälzt worden ist, persönliche Freiheit, indem wir einen Überwachungsstaat für angemessen halten, von dessen technischen Möglichkeiten die Stasi nicht zu träumen gewagt hätte. So wenig Freiheit war selten.

„Die Freude an der Freiheit hat sich in Furcht vor der Freiheit verwandelt“, hat Joachim Gauck einmal festgestellt. Das liegt natürlich auch an den zahllosen Ängsten, die seit 9/11 und der Weltwirtschaftskrise gedeihen wie selten zuvor – samt der Illusion, Freiheit gegen Sicherheit eintauschen zu können, ohne am Ende beides zu verlieren. Um diese Illusion zu benennen, braucht es keinen „Präsidenten mit Herz“, sondern einen mit Hirn. Die Deutschen haben ihn wohl gefunden.


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Zum Autor:

Christian Ortner ist Kolumnist und Autor in Wien. Er leitet „ortneronline. Das Zentralorgan des Neoliberalismus“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.03.2012)

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