Zygmunt Bauman: "Hatten ein Projekt fürs Leben"

Zygmunt Bauman Hatten Projekt
Zygmunt Bauman Hatten Projekt(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Der legendäre polnisch-britische Soziologe Zygmunt Bauman seziert im Gespräch mit der "Presse am Sonntag" die flüchtigen Glücksmomente beim Erwerb von neuen Turnschuhen und iPhones.

Sie haben in Wien auf Einladung des „Wiesenthal-Instituts“ einen Vortrag über die Geschichte des Bösen gehalten. Wie ist Ihnen das Böse in Ihrem Leben begegnet?

Zygmunt Bauman: In vielen Formen. Es ist allgegenwärtig. Philosophen und Theologen versuchen zu erklären, woher es kommt. Bis jetzt gab es darauf keine gute Antwort.

1939 mussten Sie aus Polen vor den Nazis flüchten. War das Ihre erste Erfahrung mit dem Bösen?

Mit einer Ausprägung des Bösen. Das Böse kann man in jeder Familie finden. Aber ja, Sie haben recht. 1939 musste ich von Posen vor den Nazis flüchten, und dann 1941 das zweite Mal aus dem östlichen Polen in die Sowjetunion. Dann wollte ich nach Gorki, um Physik zu studieren.

Sie waren damals mehr an Naturwissenschaft als an Soziologie interessiert?

Ja, aber es wurde nichts draus. Ich durfte als Ausländer nicht in Gorki, dem heutigen Nischnij Nowgorod, leben. Dann wurde ich nach Moskau gebracht. Ich war nur einen Monat dort. Ich schloss mich dann der polnischen Armee in der Sowjetunion an.

Das Militär ist natürlich eine besondere soziologische Anordnung.

Ich wechselte zu den Sozialwissenschaften, als ich nach Polen zurückkam und dieses zerstörte Land sah. Ich dachte, das Studium von Flüssigkeiten kann warten. Junge Menschen wollten damals die Welt zu einem besseren Ort machen. Nicht wie die heutige Jugend, die nur ihr eigenes Leben in der Welt verbessern möchte.

Lohnt es sich überhaupt, die Welt verändern zu wollen?

Ich bin eher enttäuscht am Ende meines Lebens. Ich bin fast 87 Jahre alt und lebte in einigen Gesellschaften mit unterschiedlichen Ideologien und politischen Regimen. Ich habe keine gefunden, die mich vollkommen zufriedengestellt hätte.

Aber Sie haben die Möglichkeit, zwischen verschiedenen Systemen zu vergleichen.

Ich habe sie erlebt und ich habe viel über Gesellschaftsmodelle gelesen, die frei von Erniedrigung sein sollen. Aber ich habe keine Gesellschaft gefunden, die es ist. Meine heutige Definition einer guten Gesellschaft ist folgende: Eine Gesellschaft, die nicht davon ausgeht, dass sie schon gut genug ist.

Ein zutiefst sozialistischer Gedanke.

Viele junge Leute zu dieser Zeit dachten angesichts der niedrigen Industrialisierung und der Arbeitslosigkeit, dass die Kommunisten das beste Programm hätten, um Polen wiederauferstehen zu lassen. Zu dieser Zeit habe ich mich mit meinen Freunden für dieses Programm entschieden – nur um nachher frustriert zu werden.

Aber sind nicht die schlimmsten Systeme jene, die Utopien erfüllen wollen? Die Kommunisten ordneten alles der Gleichheit und Sicherheit unter und opferten dafür die Freiheit.

Das stimmt. Die bösen Seiten des Totalitarismus sind sehr sichtbar. Es gibt auch viel Böses in unseren demokratischen Gesellschaften, aber es ist nicht so einfach herauszufinden, es ist nicht so brutal, nicht so offensichtlich, es ist versteckter. Ich würde die gegenwärtigen Gesellschaften in der Europäischen Union nicht als ideale Gesellschaften beschreiben, die keiner Verbesserung bedürften. Wir sind nicht gut genug.

Wo versteckt sich das Böse in den demokratischen Gesellschaften?

Es verändert seine Form ständig. Die moderne Gesellschaft wandelt sich permanent. Was läuft falsch? Sicherheit ohne Freiheit bedeutet Totalitarismus, Sklaverei; Freiheit ohne Sicherheit aber ist ein Zustand von ständiger Unsicherheit, Ohnmacht, ein Gefühl von Erniedrigung.

Fühlen Sie sich denn persönlich ohnmächtig und erniedrigt?

Nun, ich bin schon auf der anderen Seite, seit 20 Jahren pensioniert. Ich bin nicht gefährdet. Aber Sie sind in einer „flüssigen“, unsicheren Situation. Es gibt vielleicht Kürzungen, Ihre Zeitung wird aufgekauft ...

Dann müsste ich einen anderen Job suchen.

Sie können nicht sagen, dass alles okay mit Ihrem Leben ist. Sie haben doch auch Alpträume. Was ist, wenn Sie der neue Chefredakteur nicht leiden kann?

Aber was wäre die Alternative? Ich würde es nicht vorziehen, 40 Jahre lang ein und denselben Job zu haben.

Was ich sage: Keine der beiden Lösungen ist richtig gut. Jede hat gute und schlechte Aspekte. Ideal wäre, wenn wir beides hätten. Heute überwiegt die Freiheit, man kann ja sogar sein Geschlecht wählen.

Ist es nicht wunderbar, die Wahl im Leben zu haben?

Wunderbar – aber wir zahlen den Preis dafür. Der Preis ist, dass man nicht mehr sicher sein kann, was in ein, zwei Jahren passieren wird. Wenn Sie ein Charakter sind, dem das Spaß macht, schön für Sie. Aber es gibt so viele Menschen, die das bedrückt.

Aber hätten Sie in Posen 1937 vorhersagen können, was passieren wird?

Nein.

Die Zukunft ist immer offen.

Ja, aber nicht immer im selben Ausmaß. Bis 1968, als ich von der Warschauer Universität geworfen wurde, war ich sicher, dass ich mich dort pensionieren würde. Aber es ist nicht so passiert. Ich wurde an der Universität von Leeds pensioniert. Jean-Paul Sartre gab uns einen wichtigen Hinweis: Es ist wichtig, „projets de la vie“ zu haben. Wir hatten ein Projekt fürs Leben. Für jede Identität gab es einen Verhaltenskodex. Man wusste, was man lernen musste, wie man sich verhalten sollte. Wenn man heute Schulkindern so etwas sagt, lachen sie. Die Notwendigkeit des Wandels ist eingeschrieben in die Moderne. Sie halten es vielleicht für einen quantitativen Wandel, aber er ist so umfassend, dass es ein qualitativer Wandel ist. Wenn die Menschen heute von etwas träumen, dann ist es nicht mehr Freiheit, sondern ein wenig mehr Sicherheit. Und sie geben auch ein wenig von ihrer Freiheit her, um im Gegenzug ein wenig mehr Sicherheit zu bekommen.

Glauben Sie nicht, dass es den Menschen in Europa heute weitaus besser geht als vor 60 Jahren?

Vergleiche über Generationen hinweg ergeben wenig Sinn. Glück lässt sich objektiv nicht messen. Es gibt auch wenig Korrelation zwischen einem wachsenden Bruttonationalprodukt und menschlichem Glück. Glück ist eine sehr persönliche Sache: Es geht um Träume, Ideen und die Lebensrealität. Glück hängt nicht nur von makroökonomischen Bedingungen ab, sondern vom Partner, der Familie und anderen privaten Faktoren.

Wie definieren Sie Glück?

Ich habe ein Buch darüber geschrieben, „Wir Lebenskünstler“. Ich habe alles darüber gesagt, was zu sagen ist. Aber kurz zusammengefasst: Es gibt kein Rezept für Glück. Man kann Glück nicht aus dem Handbuch lernen.

Aber das glauben gar nicht so wenige.

Jede Werbung verspricht Glück. Wenn Sie Ihre Turnschuhe oder Ihren iPod wegwerfen und eine neue Version kaufen, können Sie einen Moment – nur einen Moment! – des Glücks erleben. Glück hat interessanterweise wenig mit Besitz zu tun, sondern mehr mit der Fähigkeit, etwas zu wählen, etwas zu erwerben, etwas aufzugeben und zu ersetzen. Unsere Generation ist nicht possessiver als frühere.

Aber sie ist freier, und auch die politischen Systeme werden im globalen Trend freier.

Regierungen und Gesellschaften haben zunehmend unterschiedliche Agenden. Diese Systeme reden nicht mehr miteinander. Die Leute beschweren sich über die Unsicherheit und Instabilität. Sie haben Zukunftsangst. Die Medizin ist üblicherweise, dass man das Leben noch unsicherer macht durch Deregulierung, durch Übertragung der Verantwortung an die Märkte, die per se unpolitisch sind. Wichtige Aspekte des Lebens werden in die Sphäre des Marktes ausgelagert. Die Regierungen waschen ihre Hände in Unschuld wie Pontius Pilatus. Ich mache sie nicht für alles verantwortlich. Das Problem ist die Globalisierung, die in der Praxis aus der Trennung von Macht und Politik besteht.

Das heißt, es regiert die Ohnmacht.

Macht bedeutet die Fähigkeit, Dinge zu tun, Politik bedeutet die Fähigkeit zu entscheiden: Welche Dinge sollen getan werden. Bis vor 40, 50 Jahren waren beide im Nationalstaat „verheiratet“. Nun ist es leider so, dass sich die Macht in einem fließenden Raum befindet, außerhalb der Reichweite von nationalen Institutionen wie Parlamenten und Regierungen. Politik ist nach wie vor lokal, in den Grenzen von Österreich oder Deutschland. Doch was können die Regierungen schon tun?

Die österreichische nicht viel.

Aber auch die anderen nicht! Merkel und Sarkozy trafen sich eine Zeit lang immer am Freitag, um wichtige Dinge für Europa zu besprechen, und dann konnten sie übers Wochenende nicht schlafen, weil sie bis zur Öffnung der Aktienmärkte am Montag abwarteten. Dann erst wussten sie, ob sie die richtige Entscheidung getroffen hatten.

Sehen Sie eine Möglichkeit, dass Politik wieder einflussreicher wird?

Leider werde ich an diesem Kampf nicht mehr teilnehmen können, weil ich zu alt dazu bin. Aber ich kann Ihnen vorhersagen, dass Sie beide den größten Teil Ihres Lebens damit beschäftigt sein werden, dieses Problem zu lösen: wie man Politik und Macht wieder zusammenbringen könnte.

Könnte die Finanzkrise einen Impetus zur Lösung des Problems geben?

Wir erleben eine Krise der Handlungsfähigkeit. Das steckt hinter dieser Kreditkrise, hinter der Krise der Jugendarbeitslosigkeit und anderen Krisen. Die Nachkriegsgeneration hatte eine Gemeinsamkeit: Der Punkt, an dem es Ihre Eltern geschafft hatten, war für sie der Ausgangspunkt. Nun ist es zum ersten Mal so, dass eine Generation nicht mehr ans Weitergehen denken kann. Sie versucht verzweifelt ihre Position zu behalten.

Welche Folgen wird das haben?

Ich bin kein Prophet. Aber diese Gesellschaft produziert viele überflüssige Menschen. Menschen, die keine Wohnungen, keinen Job haben, könnten Teilnehmer organisierter Gewalt werden, von fundamentalistischen Bewegungen, von Rechts- und Linksradikalen. Sie versprechen einfache Lösungen: Werft diese und jene Menschen raus und es wird besser. Ähnlich wie die Nazis die Befreiung von den Juden versprachen oder die Kommunisten die Zerstörung der Besitzerklasse.

Ist es nicht überraschend, dass es bisher keine gröberen Unruhen in Europa gab?

Im Süden Europas halten die Familien noch zusammen. Arbeitslose haben deshalb ein Polster, auf das sie fallen können. Das gibt es in individualisierten Gesellschaften weiter nördlich nicht mehr.

Wie ordnen Sie neue soziale Netzwerke wie Facebook ein, mit denen sich junge Aktivisten politisch organisieren?

Weil wir sehen, dass wir von den Regierungen nicht viel erwarten können, suchen wir neue Handlungsfähigkeit. Es gibt eine verzweifelte Sehnsucht nach alternativen Handlungs- und Ausdrucksmöglichkeiten. Nehmen Sie die Proteste am Kairoer Tahrir-Platz oder auch Occupy Wallstreet. Alle möglichen Leute waren dort, es gab keinen Anführer. Und alle waren ganz stolz darauf. In gewisser Weise handelten sie rational, denn wenn es einen Anführer gegeben hätte mit einer Idee, dann hätte er die Mehrheit der Menschen befremdet und sie gespalten. Ohne Anführer macht es Spaß. Elias Canetti hat sehr schön darüber geschrieben: Die Masse ist destruktiv, aber sie kann nichts aufbauen.

Occupy Wallstreet hatte kein anderes Übereinkommen, als dass die Banker schuld an der Krise sind. Ich weiß nicht, ob die Wall Street bemerkt hat, dass sie „besetzt“ war. Aber wenn sie sich geändert hätte, wäre die Gemeinschaft der Protestierenden schnell zerbrochen. Das ist eine sehr provisorische und flüchtige Bewegung. Sie ist negativ gepolt. Bisher haben wir keinen Beweis, dass sie fähig ist, etwas Positives zu bewirken.

Lassen Sie uns an den Anfang unseres Gesprächs zurückkehren. Warum nimmt das Böse, wie bei Osama bin Ladens al-Qaida, oft die Gestalt des Religiösen oder Quasi-Religiösen an?

Ich würde das etwas anders sehen. Das wirkliche Problem des Bösen kommt nicht von der Religion, sondern vom Monotheismus, vom wahren Gott. Die alten Römer waren polytheistisch. Wenn sie ein neues Gebiet eroberten, gaben sie der Bevölkerung nicht nur die Staatsbürgerschaft, sie stellten die lokalen Gottheiten auch in den Pantheon in Rom. Es gab eine friedliche Koexistenz der Götter. Abgesehen von Judäa, dort gelang diese Aneignung nicht. Warum? Weil es der einzige monotheistische Ort im Römischen Imperium war.

Wenn Sie sagen, ich habe die Wahrheit, dann ist das okay. Aber wenn Sie sagen, ich habe die einzige Wahrheit im Leben – dann wird es problematisch. Dann kann man nicht mehr darüber diskutieren.

Sie waren in Ihrer Jugend Kommunist. Wurden Sie vom Bösen verführt?

Das ist ein schmerzhafter Moment in meiner Biografie. Ich wurde verführt. Es gab einen Unterschied zwischen Nazi- und Sowjet-Totalitarismus. Die Nazis waren auf ihre Art ehrlich. Hitler und seine Kameraden verschwiegen ihre Mordabsichten nie. Die Sowjets waren heuchlerisch. Sie entliehen ihre Slogans Voltaire, Diderot und anderen: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Humanismus. Ich wurde verführt, weil ich dachte, sie setzen die Aufklärung um.

In Ihrer Jugend waren sie für den polnischen Militärgeheimdienst tätig. Dachten Sie damals, etwas Gutes zu tun?

Ja, ich war überzeugt. Die Industrie wuchs, die Bauern erhielten Land, es gab kostenlose Ausbildung. Viele positive Dinge passierten.

Wann kamen Ihnen Zweifel?

Im polnischen Oktober von 1956 wurde ich zum Revisionisten.

Zygmunt Bauman

Der 1925 geborene Soziologe und Philosoph, der seit 1971 in Großbritannien lebt, analysiert die heutige Konsumkultur ebenso unermüdlich, wie er soziale Netzwerke und aktuelle Proteste wie Occupy Wallstreet verfolgt. Bauman wuchs in einer jüdischen Familie im polnischen Posen auf, floh 1939 vor den Nazis, kämpfte später bei der polnischen Armee für die Befreiung seines Landes. Er lehrte als Soziologe an der Universität Warschau, publizierte über den britischen Sozialismus und die Parteiensysteme im Kapitalismus. Im März 1968 durfte er nach einer antisemitischen Kampagne Władysław Gomułkas nicht mehr unterrichten. Bauman emigrierte nach Israel, kehrte dem Land nach drei Jahren den Rücken und folgte einer Berufung an die Universität Leeds.
Er hat sich vor allem durch die Analyse von Moderne und Postmoderne einen Namen gemacht. Die fortschreitende Individualisierung und „Verflüssigung“ der Lebensentwürfe betrachtet Bauman mit Skepsis. Er war diese Woche auf Einladung des Wiener Wiesenthal-Zentrums und der polnischen Botschaft in Wien.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.03.2012)

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