Perceval: "Theater ist eine Glaubensgemeinschaft"

Perceval Theater eine Glaubensgemeinschaft
Perceval Theater eine Glaubensgemeinschaft(c) EPA (BODO MARKS)
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Der Belgier Luk Perceval ist ein Theaterberserker: Seinen Schauspielern und dem Publikum verlangt er einiges ab. Mit der "Presse am Sonntag" sprach er über die Katastrophe und ihre verborgene Kraft.

Sie verlangen Ihren Schauspielern einiges ab. Bei Molières „Don Juan“ musste Thomas Thieme auf offener Bühne masturbieren. Wie bekommen Sie Schauspieler dazu, das für Sie zu tun?

Luk Perceval: Schauspieler brauchen wie alle Menschen Vertrauen. Ich würde nie einen Schauspieler persönlich angreifen, ich werde ihm keine Vorwürfe machen – und wenn er einen Blödsinn treibt, werde ich nicht glauben, dass er das mir zu Fleiß macht. Wir sind immer auf Augenhöhe. Ich habe selbst fünf Jahre lang als Schauspieler gearbeitet. Die Art, wie in diesem Betrieb die Leute miteinander umgehen, hat mich abgestoßen. Darum habe ich auch nach diesen fünf Jahren aufgehört und mir die Zeit genommen zu überlegen, warum ich eigentlich Theater machen will.

Und warum machen Sie Theater?

Vielleicht liegt das daran, dass ich ein großes Unrecht erfahren habe, dass ich einen großen Schmerz in mir trage, den ich teilen möchte. Und zwar wirklich teilen. Ich rede da nicht von Facebook, in dem wir uns vor allem selbst etablieren wollen, wo wir zeigen wollen, mit wie vielen interessanten Sachen wir uns beschäftigen. Im Theater geht es, wie in der Kirche, wie in jeder Glaubensgemeinschaft – und das Theater ist für mich eine Art Glaubensgemeinschaft – darum, Emotionen zu teilen. Das Theater ist eine sehr altmodische Disziplin, die sich zwar erneuert hat, was die Form und die Sprache betrifft, obwohl ich auch das manchmal bezweifle, aber im Grund ist das Theater einfach eine Möglichkeit geblieben, gemeinsam zu lachen und zu weinen. Sind Sie schon einmal während eines Stücks auf einer Bühne gestanden?

Nein, nur einmal hinter der Bühne, bei der Requisite.

Wenn man auf der Bühne steht und die Zuschauer beobachtet, dann sehen die sehr seltsam aus. Wie eigentümliche Tiere. Ihre Gesichter sind in Bewegung, auch wenn sie das selbst gar nicht mitbekommen. Sie reagieren auf das, was auf der Bühne geschieht, sie imitieren die Schauspieler. Das wirkt manchmal rührend, manchmal lächerlich, auch oft kindlich. Als ich einmal Stimmprobleme hatte, hat mein Arzt mir geraten, ich soll nicht nur still sein, ich soll am besten gar niemanden treffen. Schon dann, wenn ich einen anderen sprechen höre oder sehe, bewegten sich unwillkürlich meine Stimmbänder. Wir spiegeln den anderen ständig. Wenn ich in den Zuschauerraum und in die Gesichter schaue, bestärkt mich das darin, dass die Menschen nicht der Ideen wegen ins Theater gehen, sondern des gemeinsamen Erlebens wegen. Das Theater gibt dem Menschen Würde zurück.

Reagiert das Publikum in Österreich anders als das Publikum in Belgien?

Ja. Und das Wiener Publikum reagiert anders als das Salzburger, das Münchner anders als das Hamburger... Wirklich groß ist der Unterschied für mich zwischen katholischen Ländern und protestantischen. Belgien ist katholisch, ich bin in eine katholische Schule gegangen wie ja die meisten belgischen Kinder, weil man an nicht-konfessionellen angeblich nichts lernt. Was Blödsinn ist, aber so ist die Tradition. Jedenfalls kann man sagen, dass in den katholischen Ländern meine Art, Theater zu machen, emotionaler angenommen wird als in protestantischen. Das Katholische ist eine ekstatische Religion, und sie kennt diese Läuterung durch Schmerz, die in meiner Art, Theater zu machen, eine große Rolle spielt. In Deutschland – mit Ausnahme von München – wird vom Theater erwartet, dass es politisch ist, dass es die Welt erklärt. Aber das geht nur, wenn ich mich selbst verstehe.

Der Schmerz läutert?

Ich bin in Lommel geboren, jenem Dorf, aus dem die Kinder stammen, die neulich in der Schweiz mit dem Bus verunglückt sind. Am Mittwoch sind sie beerdigt worden. Das ganze Land ist überwältigt von Trauer, Verzweiflung, von Demut auch, das ist unglaublich, fast nicht vorstellbar. Gerade im Schreck, angesichts der Katastrophe beweist es sich, dass der Mensch ein einfühlsames Wesen ist, da verliert er seine Ich-Bezogenheit, sein Angst-Denken.

Aber das ist eine Form von Empathie, die nichts kostet.

Ich weiß nicht, ob das wirklich nichts kostet. Vielleicht kann man das so sehen. Aber in diesem Schmerz brechen Schutzmuster auf, die wir uns angeeignet haben, um zu überleben. Normalerweise sind wir doch nur von Angst getrieben, jeder kämpft für sich allein, gegen den Tod, gegen den Verfall, und wenn wir in die Enge getrieben sind, neigen wir dazu, alles zu zerquetschen, was uns im Weg ist, oder sogar unsere Mitmenschen zu essen, wenn es nur nützt. In Stalingrad haben die eingekesselten Soldaten begonnen, einander zu zerfleischen! Da kann man dann natürlich sagen: Der Mensch ist ein Horror, ein reines Überlebenstier, und das ist er wohl auch. Aber nicht nur. Er ist auch tief fühlend, ein liebevolles Wesen.

Also braucht es die Katastrophe, um gute Kräfte zu wecken?

Viele sagen, die Welt entwickle sich katastrophal, die Weltwirtschaftskrise breche über uns herein, den Menschen gehe es immer schlechter. Aber in der Katastrophe sind wir gezwungen, über den eigenen Schatten zu springen, uns zu solidarisieren, damit unsere Kinder die Chance haben zu überleben. Es hat sich die Menschheit ja sehr wohl zum Besseren hin entwickelt, es ist uns etwa bewusst, dass jeder Mensch die gleichen Rechte haben soll – und immer häufiger gelingt es auch, das durchzusetzen. Aber lassen Sie uns ehrlich sein: Der Mensch ist eben langsam – und wir verändern uns nicht, weil wir so intelligent sind und so vorausschauend, sondern weil uns etwas weh tut, weil wir an etwas leiden und weil wir wollen, dass das aufhört.

Das Motto dieser Ausgabe heißt: „Die Welt von oben“. Fällt Ihnen dazu etwas ein?

Ich fliege gerne und sitze im Flugzeug immer am Fenster und schaue mir die Wolken an. Wolken sind etwas Wunderbares. Es ist eine der wenigen Gelegenheiten, bei denen ich Zeit habe, einfach nichts zu tun und zu schauen. So wie am Meer. Ich bin ein Kind des Wassers. Ich bin auf Schiffen aufgewachsen, meine Eltern waren Skipper. Auf dem Meer übergibt man sich dem Schicksal, man erlebt die Weite, das macht mich glücklich. Wenn ich von Bergen umgeben bin, werde ich dagegen melancholisch. Berge haben so eine Traurigkeit an sich, eine mystische Stille zwar auch, aber eben auch dieses Traurige – ich kann gut nachvollziehen, warum Thomas Bernhard so geschrieben hat.

Sie sagen, nur auf dem Wasser und im Flugzeug haben Sie Zeit. Aber warum lassen wir es zu, dass wir so wenig Zeit haben?

Weil wir Angst haben, nicht mehr dazuzugehören, weil wir glauben, dass wir ausgestoßen werden, wenn wir nicht mehr mitmachen. Aber ich habe dazugelernt, ich mache regelmäßig Yoga, und den kommenden Monat werde ich auf meinem Schiff verbringen. Man kann sich nicht immer herausreden, man kann die Schuld nicht immer auf die anderen abwälzen. Das tun wir doch so gerne. Auf die Gesellschaft, die Politiker, die Vergangenheit, auf die Eltern. Wir sind verantwortlich für die Politiker, die wir wählen. Und die Eltern hatten ihre Vergangenheit und deren Eltern ihre und immer so weiter – und alle haben ihre Schutzmuster entwickelt. Das muss man sehen. Und dann die Verantwortung für sich übernehmen.

Luk Perceval

Als Schauspieler arbeitete der 1957 in Lommel geborene Luk Perceval nur fünf Jahre lang. Dann kehrte er zunächst dem traditionellen Theaterbetrieb den Rücken und gründete seine eigene Compagnie.

Das Deutsche Schauspielhaus engagierte ihn 1999 als Regisseur, sein in diesem Jahr auch in Salzburg gezeigter Shakespeare-Abend „Schlachten!“ wurde beim Berliner Theatertreffen zur Inszenierung des Jahres gewählt. Seit 2009 ist Perceval leitender Regisseur am Thalia-Theater Hamburg – er inszenierte dort zuletzt Tschechows „Kirschgarten“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.03.2012)

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