Syrische Flüchtlinge: »Bist du Muslim oder Alawit?«

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Die Zahl der Syrer, die vor den Gräuel des Assad-Regimes auf gefahrvollen Wegen in die Türkei geflohen sind, dürfte sich allmählich der Marke von 20.000 nähern. Viele gelangen in die Provinz Hatay um Antakya.

Es mag einen Flüchtling nicht besonders trösten, aber wenigstens sieht es hier noch aus wie in einem großen Teil Syriens: Schafe mit schwarzen Köpfen und dicken Fettschwänzen werden von jungen Hirten über Berge und Hügel getrieben. Silberblättrige Olivenbäume krallen sich in die kargen Böden. In der Ebene gibt es üppige Gärten und Reisfelder. Auf beiden Seiten der Grenze hat man den gleichen Glauben, und obwohl die Provinz Hatay nun schon mehr als 70 Jahre zur Türkei gehört, sprechen manche Eltern mit ihren Kindern noch immer zuerst Arabisch.

Doch nicht alle Leute in Antakya und schon gar nicht alle Syrer, die auf legalen Wegen nach Antakya gekommen sind, haben Verständnis für die Flüchtlinge, die seit dem Ausbruch des Aufstands gegen Bashar al-Assad hier in Scharen eintreffen.

Neben der Einfahrt zum alten Busbahnhof von Antakya stehen drei syrische Busfahrer in verstaubter Montur. Auf Nachfrage bekennen sie sich unisono zu ihrer Regierung und sind gegen den Aufstand. Um die Ecke betreibt Yusuf ein kleines Hotel, in dem viele Araber absteigen. Er meint, beide Seiten seien im Unrecht, schließlich habe Assad doch gerade erst ein Referendum gewonnen. Nicht weit von ihm entfernt steht ein kleiner, etwas rundlicher Mann um die dreißig zusammen mit seinem syrischen Freund. Der Syrer ist etwas jünger und hoch gewachsen wie eine Bohnenstange. Ersterer verkauft hier Waren aus Syrien und ist damit sehr zufrieden. Für die Flüchtlinge hat er kein Verständnis.

„Es ist doch alles so billig in Syrien“, gibt er zu bedenken. „In Syrien ist die Ausbildung umsonst“, insistiert der Lange. Dann fragt er seinen türkischen Freund: „Und in der Türkei?“ „Nicht umsonst.“ Der Syrer fährt fort: „In Syrien ist das Krankenhaus umsonst. Und in der Türkei?“ „Nicht umsonst“, brummt der Kleine. „In Syrien kostet ein Paket mit vierzehn Broten elf Lira. Das sind in der Türkei 50 Kurusch“, fährt er seine Rede fort. „Bei uns kostet ein Brot 70 Kurusch“, assistiert sein Freund.

Aber warum gibt es dann Flüchtlinge? „Die sind zu faul zum Arbeiten oder wollen einfach ausreisen“, antwortet der Türke. Sein syrischer Freund macht nun doch eine kleine Konzession: „Natürlich gibt es in Syrien Unterdrückung, aber das wird übertrieben dargestellt.“ Ein Tunesier, der angibt, vier Jahre lang in Syrien gelebt zu haben, mischt sich ein. „Wir mussten einen Aufstand machen“, sagt er, „aber in Syrien ist doch alles viel billiger als bei uns.“

Heimatstadt zerstört. Wenige Schritte von der syrischen Grenze liegt Human Sarmini im Krankenhaus von Reyhanli. Der 27-jährige Pharmazeut wurde vor ein paar Stunden über die Grenze gebracht. Wie genau, das weiß er selbst nicht oder möchte es nicht sagen. In seinen beiden Schultern stecken Splitter einer Handgranate. Die Oberarme kann er nicht bewegen.

Vor zwei Tagen sei sein Geburtsort, die Kleinstadt Sarmin bei Idlib, von Panzern eingenommen worden, erzählt er. Hunderte Panzer hätten die Stadt umstellt und dann seien sie eingedrungen. „Sie haben meine Stadt zerstört, auch alle Moscheen“, erzählt er. Mit vergrabenen Bomben hätten die Widerständler fünf Panzer gestoppt, doch sie hätten keine Waffen gehabt. Sarmini denkt, zwanzig Menschen seien umgekommen, kann es aber nicht genau sagen.

Gut ausgebildete Flüchtlinge wie der Pharmazeut sind selten. Die meisten sind einfache Leute, die keine Fremdsprache sprechen. Auffallend viele von ihnen tragen einen gepflegten, langen Vollbart, wie er bei strenggläubigen Muslimen beliebt ist.

Von Flugzeugen bombardiert. Ahmed Muhammed ist einer von ihnen. Mit seiner kleinen, bereits sorgsam verschleierten Tochter verlässt er ein Flüchtlingslager bei Yayladagi. Vor ungefähr einem Monat ist er mit seiner Familie aus Idlib hierher geflohen. Sie seien von Flugzeugen bombardiert worden, erzählt er. Beim Referendum habe er für Asad gestimmt, denn im Wahllokal seien Soldaten gewesen, die gedroht hätten, jedem, der anders abstimmt, die Füße abzuschneiden. Muhammed bückt sich nach vorn und zieht mit der Hand eine Linie oberhalb der Fußknöchel. Bei der Erinnerung weiten sich seine Augen vor Schreck. Schließlich hält er die beiden Zeigefinger nebeneinander, als wolle er zwei Seiten demonstrieren und sagt: „Dies ist ein Krieg zwischen Alawiten und Sunniten. Nirgendwo wurde ein alawitisches Dorf bombardiert.“

Dass die alawitische Minderheit, der auch die Familie Assad angehört, verschont wird, ist einer der Punkte, die sich in den Erzählungen der Flüchtlinge immer wiederholen. Tatsächlich sind keine Alawiten (eine Spielart des Islam, in der Imam Ali wie ein Prophet verehrt wird) unter den Flüchtlingen. Außerdem erzählen sie von bärtigen Soldaten in Assads Armee, die kein Arabisch sprechen. Viele sagen, sie hätten diese mutmaßlichen Iraner selbst gesehen. Findet hier eine Art Religionskrieg statt? Das wäre sicher übertrieben. Im Grunde ist das Bündnis zwischen Damaskus und Teheran politischer und nicht religiöser Natur. Mit den liberalen Islam-Interpretationen könnten die Machthaber in Teheran im eigenen Lande wenig anfangen.

Die Assads haben in Syrien schon immer entsprechend dem lateinischen Spruch „divide et impera“ – teile und herrsche – regiert. Je mehr der Konflikt hochkocht, desto eher müssen die Alawiten die Rache sunnitischer Heißsporne fürchten, falls Assad untergeht.

Dass solche Sorgen nicht unbegründet sind, zeigt ein Bericht der Menschenrechtsorganisation „Human Rights Watch“ über Menschenrechtsverletzungen seitens der Rebellen. Ähnliche Berichte gibt es mittlerweile auch aus anderen Quellen.

Übrigens fehlen nicht nur die Alawiten in den Flüchtlingslagern, sondern auch viele andere Minderheiten. Wo sind die vielen Christen und wo die Kurden, die in Syrien leben?

Relativierung der Gräuel. Auch auf der türkischen Seite der Grenze leben viele Alawiten. Sie sehen den Aufstand zum großen Teil mit Skepsis oder versuchen die Gräuel der Regierungsseite zu relativieren. „Ich bin Anhänger von Assad, ihn mag ich“, sagt Mithat, der in Antakya Mobiltelefone verkauft. „Aber Leute aus seiner Umgebung machen Fehler“, fügt er hinzu. Mithat selbst sagt, er sei kein Alawit, aber Leute aus seiner Umgebung widersprechen ihm.

Obwohl er viele Erzählungen von den Massakern des Regimes gehört hat, kann sich ein Lebensmittelhändler in Yayladagi noch immer nicht entscheiden, wem er nun recht gibt: „Diese Flüchtlinge haben ohne Zweifel Schlimmes erlebt“, sagt er, „aber wir kennen Berichte nur von einer Seite und können daher nicht urteilen.“
Ein junger Hirte lässt zusammen mit seinen kleinen Brüdern seine Schafe neben dem Flüchtlingslager bei Reyhanli weiden. Den Fremden fragt er gleich mit strenger Miene: „Bist du Muslim oder Alawit?“

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