Grätzel statt Facebook: Wo Stadt stattfindet

Graetzel statt Facebook Stadt
Graetzel statt Facebook Stadt(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Wiener identifizieren sich mit ihrem Grätzel, Kontakte in der Nachbarschaft beeinflussen ihr Wohlgefühl. Für Stadtplaner heißt das: Reizvolle öffentliche Treffpunkte sind wichtig - dort keimt das lokale Netzwerk.

Wien. Sofas an der Straßenecke, Lebensräume im Park und am Perron. So darf sich Wien ausmalen, wer sich mit etwas Fantasie die Ergebnisse einer Studie der Akademie der Wissenschaften vor Augen führt: Das Institut für Stadt- und Regionalforschung ging der Frage nach, welche Bedeutung die lokale Umgebung, das viel gerühmte „Grätzel“, für Städter hat. 600 befragte Wiener machten ihren positiven Bezug zur Gegend vor allem von einem abhängig: Bekanntschaften im Bezirk, Tratschen an der Ecke, kurz: Der Wiener baut sich sein Wohnzimmer gerne in den öffentlichen Raum hinein. Wenn dieser Lust darauf macht.

Insgesamt lässt das Ergebnis den Facebook-Account neben „Tratsch und Klatsch am Eck“ verblassen: Die überwiegende Mehrheit der Befragten in drei Wohngegenden (in der Josefstadt, in Ottakring und in Meidling) hat einen ausgeprägten Bezug zum Grätzel. Diese Verbundenheit beruht auf Kontakten und Freundschaften, auf Rat und Hilfe von nebenan aber auch auf oberflächlichem „Stolz“ auf den Bezirk. Dabei beeinflussen Zahl und Intensität der nachbarschaftlichen Kontakte stark, wie sehr Menschen in ihre Umgebung „eingebettet“ sind und sich dort wohlfühlen.

Migranten sind kontaktfreudiger

Besonders viele interethnische Kontakte haben Menschen mit Migrationshintergrund. Stadtforscher würden es nicht so ausdrücken – aber in puncto Kontaktfreudigkeit mit Zuwanderern scheint der „Ur-Wiener“ Nachholbedarf zu haben. Insgesamt überrascht nicht nur, dass lokale Treffpunkte trotz neuer virtueller Räume nicht an Bedeutung verlieren. Diese Bedeutung zieht sich quer durch alle Altersgruppen, Geschlechter und ethnischen Hintergründe.

Und: Wie viele Einwanderer in einem Grätzel wohnen, scheint nicht signifikant zu beeinflussen, wie wichtig den Bewohnern ihre Nachbarn sind und wie sehr sie ihnen vertrauen. Dazu gaben die Befragten aus der bürgerlichen Wohngegend Laudongasse in der Josefstadt (mit unterdurchschnittlichem Einwandereranteil) und jene vom Ludo-Hartmann-Platz, einer Gastarbeitergegend in Ottakring, ähnliche Antworten: In beiden Gegenden lassen sich mehr als 60 Prozent der Bewohner als stark oder mittelstark eingebettet klassifizieren.

Ausreißer ist eine Gegend, die in Wien ohnehin ein Imageproblem hat: die Wohnhausanlage „Am Schöpfwerk“ in Meidling. Dort war die Gruppe der Menschen mit positivem Bezug zu ihrer Umgebung fast gleich groß wie jene derer, den ihre Nachbarn egal sind, die Misstrauen gegen sie hegen oder Konflikte erlebten. Besonders viele Unzufriedene gibt es unter männlichen Schöpfwerk-Bewohnern ohne Migrationshintergrund. Dass in den Wohnblocks neben der U6 die Gruppe von Menschen mit wenig oder negativem Bezug besonders groß ist, deutet laut Studien-Koautorin Ursula Reeger auf das Konfliktpotenzial unterschiedlicher ökonomischer Hintergründe hin: „Bei der Zufriedenheit mit dem Leben vor Ort geht es scheinbar nicht darum, wie viele Migranten dort wohnen, sondern darum, unter welchen Umständen sozial schwache Gruppen aufeinandertreffen.“

Welche Schlüsse erlauben die Ergebnisse? Keine unwichtige Frage, schließlich sollen als Abschluss des EU-Projekts „Geitonies“ (griechisch für „Nachbarschaft“) Empfehlungen für Politiker entstehen. Nicht nur für österreichische – befragt wurden neben Wienern auch Menschen in Lissabon, Rotterdam, Bilbao, Thessaloniki und Warschau. Am meisten interethnische Kontakte hatten dabei die Befragten in Wien und Rotterdam, am wenigsten in Warschau. Ein Grund dafür könnte die lange Geschichte der Zuwanderung sein, die Österreichs Hauptstadt mit der Hafenmetropole Rotterdam verbindet: Während Portugal lange eher Auswanderungs- als Einwanderungsland war, begann die Zuwanderung von Gastarbeitern in Wien und Rotterdam bereits in den 1960er-Jahren.

Fazit von Koautorin Ursula Reeger: „Für uns war interessant, wie wichtig der Faktor Zeit ist – es gibt dort viel Kontakt, wo Migration schon lange stattgefunden hat.“ Doch Nachbarn brauchen nicht nur Zeit, um „warm zu werden“, sondern auch Treffpunkte: „Infrastruktur spielt eine große Rolle für den Bezug zur Gegend und das Entstehen von Kontakten“, so Reeger, „es geht um Orte, die leicht zu benennen sind und die einer Gegend Identität geben – Parks, Plätze, Bibliotheken und öffentliche Verkehrsmittel.“

Ein wenig Josefstadt für überall

Kein Wunder also, dass die Josefstadt mit ihren bekannten Straßenzügen am meisten Verbundenheit aufweist. Wobei wohl auch der hohe Bildungsgrad der Bewohner und der geringe ökonomische Druck eine Rolle spielen.

Insgesamt sollten Stadtplaner den öffentlichen Raum vermehrt berücksichtigen, meint Reeger. Sie greift damit Empfehlungen vor, die erst ausgearbeitet werden. Ein Hauch von Josefstadt für jede Wohngegend, das könnte eine sein. Wie das stadtplanerisch umzusetzen ist, ist eine andere Frage.

Auf einen Blick

Wie wichtig ist das Grätzel? Das untersuchte das Institut für Stadt- und Regionalforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften im Zuge des EU-Projekts „Geitonies“. Entstanden ist die Publikation „Neighbourhood Embeddedness and Social Coexistence“ (J. Kohlbacher, U. Reeger und P. Schnell).

WEITERE INFORMATIONEN UNTER

http://geitonies.fl.ul.pt

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.04.2012)

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