„Prüfe Dein Gewicht!“

Die öffentlichen Personenwaagen in Wien: Am Anfang musste der Umgang mit ihnen erlernt werden („I muß mich beschwer'n, i hab' da drei Kreuzer einithan und 's kommt ka Schokolat' außa“), heute sind sie Blickfang und Kuriosum für Touristen. Eine gewichtige Geschichte.

Spaziert man heute aufmerksamen Blicks durch Wien, fällt einem sogleich die große Anzahl an öffentlichen Personenwaagen auf. Wohl in keiner anderen Großstadt ist dieses spezielle Straßenmöbel derart präsent. Mehr als 100 Exemplare befinden sich an Straßenbahnhaltestellen, wichtigen Verkehrsknotenpunkten, in zahlreichen Parks und Schwimmbädern. Leidet die „Stadt der Phäaken“ an einer Gewichtsneurose? Oder sind die Waagen schlicht Relikte aus vergangenen Zeiten?


Die erstmalige Aufstellung einer öffentlichen Personenwaage erfolgte in Wien bei der im Mai 1888 im Prater eröffneten großen „Jubiläums-Gewerbe-Ausstellung“. Die anlässlich des 40-jährigen Thronjubiläums von Kaiser Franz Joseph abgehaltene Ausstellung präsentierte die neuesten Erzeugnisse der österreichischen Industrie- und Gewerbeproduktion, darunter auch jene der renommierten Waagenfabrik C. Schember & Söhne. Die Firma hatte einen eigenen Pavillon nahe der Rotunde erhalten, bei dem die Besucher nun erstmals „automatische Waagen mit Münzeinwurf“ erproben konnten. Sehr zur Freude so mancher Witzblätter, die den zunächst noch unbeholfenen Gebrauch des neuen Apparates lustvoll karikierten. Denn Zweck und Bedienung desselben mussten erst erlernt werden: „Bauer (zum Sicherheitswachmann): I bitt', i muß mich beschwer'n, i hab' da drei Kreuzer einithan und 's kommt ka Schokolat' außa.“


Das Zeitalter der Münzautomaten war angebrochen, zunächst in den USA und sodann auch in Europa. Hier war es die deutsche Firma Stollwerck, die ihre Schokoladeerzeugnisse erstmals nach amerikanischem Vorbild in Automaten anbot – mit sofortigem Erfolg weit über die Grenzen des Landes hinaus. Andere Anbieter folgten, und mit ihnen eine breite Palette an Produkten und Dienstleistungen, die man künftig über Münzautomaten bezog: von Postkarten und Rasierklingen über Spiele und Unterhaltungsmusik bis hin zu Telefongesprächen. Auch eigene Automatenrestaurants wurden ins Leben gerufen, in Paris, Berlin, München und in Wien: am Praterstern und in der Mariahilfer Straße.
Voraussetzung für all dies war eine technisch einwandfrei funktionierende Münzprüfung. Diese war um 1891 bereits so verfeinert, dass Gewicht, Durchmesser, Dicke, Härte, Prägung und Ränderung der eingeworfenen Münzen exakt kontrolliert werden konnten. Damit war die ständige Betreuung der Automaten überflüssig, der Verkäufer sparte Personal und konnte seine Waren zudem Tag und Nacht anbieten. Das ideale Medium für die urbane Massengesellschaft war geboren: schnell, anonym und jederzeit verfügbar.
Die Personenwaage gehörte zur Generation der ersten Münzautomaten. Schon ab 1886 wurden Patente dafür eingereicht, in den folgenden Jahren kamen sie in zahlreichen europäischen Großstädten zur Aufstellung. In Wien gab es, wie uns Lehmann's Branchenverzeichnis mitteilt, mehrere kleinere und größere Erzeuger für „selbstthätige Waagen zum Selbstwiegen durch Einwurf einer Münze“: die Firmen Rudolf Schwarz in Wien-Landstraße und Anton Eichler in Wien-Favoriten sowie die Pionierfirma C. Schember & Söhne, die. Waagen aller Größen erzeugte: von der kleinsten Präzisionswaage über Brückenwaagen bis zu Lokomotivwaagen schwersten Kalibers. Um 1900 unterhielt man Dependancen in Budapest, Prag, Triest und Sarajewo. Der Titel „k. u. k. Hoflieferant“ würdigte die Verdienste und Leistungsfähigkeit des Unternehmens, das sich nun auch auf dem Sektor der automatischen Personenwaagen profilierte.


Die ersten Modelle bestanden aus einem Podest, das mit einem kastenförmigen Metallkorpus verbunden war, der den Einwurfschlitz für die Münzen und eine kreisrunde Anzeige mit Kilogrammskala und Zeiger aufwies. Auf einem Aufsatz darüber war die Gebrauchsanweisung mit den Schlüsselworten „Automatische Waage“ und „3 Kreuzer“ zu lesen. Spätere Modelle weisen eine waagrechte Skala und als Besonderheit einen Spiegel auf. Letzteres ist ein Hinweis auf den Gebrauch des neuen Geräts, das vor allem der Selbstvergewisserung diente. Anders als heute war die Überprüfung des eigenen Gewichts um 1900 noch weit weniger schambesetzt. Es überwog die Neugier, die Faszination, auf einfache und billige Weise sein Körpergewicht erfahren zu können. Das Wiegen geriet zum öffentlichen Ereignis, bei dem die betreffende Person ihr Aussehen auch visuell überprüfen konnte. Die öffentliche Personenwaage war denn auch weiterhin ein Thema der satirischen Publizistik, die sich etwa darüber lustig machte, dass eine prominente Frau „durch das grausame Urteil der automatischen Waage alljährlich nach Marienbad verbannt wird“.


In der Zwischenkriegszeit setzte sich der Automatenboom ungehindert fort, und die öffentlichen Waagen begannen sich im Stadtraum zu verbreiten. Neue Anbieter kamen hinzu, wie die alt eingesessene Wiener Waagenfabrik J. Florenz, vor allem aber das niederländische Unternehmen Van Berkel. 1927 eröffnete man an der Erdberger Lände eine eigene Fabrik, in der künftig auch öffentliche Personenwaagen produziert wurden, wie die Kulturwissenschaftlerin Andrea Traxler bei ihren Recherchen herausfand. Sie kennt auch einige der Standorte, die damals mit Waagen bestückt wurden, wie die Einfriedung zum Volksgarten nahe dem Burgtheater (1922) oder den Viktor-Adler-Markt (1930).
Genaue Standortverzeichnisse und Verkaufszahlen der jeweiligen Firmen sind leider nicht bekannt. Fest steht, dass der Vorgang der öffentlichen Gewichtskontrolle weiter an Bedeutung gewann. Dabei war es nunmehr eher die moderne Zurichtung des Körpers unter ästhetischen, gesundheitlichen und zweckrationalen Gesichtspunkten. Modebewusstsein, moderne Körper- und Schönheitspflege begannen den Alltag der Menschen zu bestimmen. Schlankheit geriet zum Körperideal, das im als besonders genussfreudig geltenden Wien nicht gerade einfach zu verwirklichen war. Augenzwinkernd empfahl denn auch der renommierte Journalist und Schriftsteller Ludwig Hirschfeld in einem populären Wienführer den Besuchern der Stadt: „Iß gut und bleib schlank – wenn du kannst.“ Nicht zufällig verbreiteten sich auch in jenen Jahren zahlreiche Scherzkarten, die beleibte Menschen in witzigen Situationen auf einer öffentlichen Waage zeigen, darunter häufig Frauen, die Hauptzielgruppe der Schlankheitsideologie.


Kommunale Gesundheitsvorsorge war auch nach 1945 aktuell. Insbesondere dann, als die ärgste Not überwunden war und sich die Wohlstands- und Konsumgesellschaft zu etablieren begann, mit all ihren Nebenwirkungen. Aufklärungskampagnen thematisierten die Zunahme des Alkoholkonsums und des Rauchens – und die mittlerweile allzu häufigen Gewichtsprobleme.
So setzte denn auch in den 1950er-Jahren – parallel zu einem weiteren Boom an Münzautomaten (der erste PEZ-Automat war 1956 am Westbahnhof aufgestellt worden) – die eigentliche Blütezeit der öffentlichen Personenwaagen ein. Dominierend waren die Erzeugnisse der Firma Berkel. Zum Klassiker wurde dabei das Modell „Schnellwaage 24000 MI“, das auch heute noch am verbreitetsten ist. In der auffälligen Farbe Rot gehalten, bestach es durch sein gleichermaßen reduziertes wie elegantes Design: Ganz oben wies ein Pfeil zum auf der rechten Seite markant abstehenden Einwurfschlitz hin. Die runde Anzeigenskala hatte eine ausgeschnittene Öffnung, die den Blick auf das technische Innenleben des mechanischen Wunderwerks preisgab. Voll Staunen konnte man so die elegante Bewegung metallener Scheiben und deren Kraftübertragung auf den Zeiger mitverfolgen, unmissverständlich und unbestechlich. Neben Berkel waren weiterhin die Waagen der Firma Schember stark vertreten. Sie wiesen eine waagrechte Messskala auf sowie die deutlich sichtbare Aufschrift: „Im Interesse Ihrer Gesundheit prüfen Sie oft Ihr Gewicht!“ oder: „Prüfe Dein Gewicht!“ Regelmäßige Kontrolle desselben sollte für die Wiener Bevölkerung zur Selbstverständlichkeit gehören. An den Waagen angebrachte Schildchen gaben zudem Auskunft über das Idealgewicht je nach Geschlecht und Körpergröße. Der Preis für die exakte Eruierung der Kilogramme betrug Mitte der Fünfzigerjahre wohlfeile zehn Groschen.


Vereinzelt kamen aber auch schon völlig neuartige Waagenmodelle zum Einsatz, etwa im Stadtpark. Sie zeigten das Gewicht nicht mehr auf einer Skala, sondern auf einem kleinen, ausgedruckten Kärtchen an, gleichsam zum Mitnehmen in der Manteltasche. Sukzessive hatte eine Veränderung der Schamgrenzen stattgefunden. Eine öffentliche, für alle Passanten sichtbare Gewichtsanzeige galt zunehmend als unzeitgemäß, sie war privater und intimer geworden. In den Siebzigerjahren kam das Geschäft mit den öffentlichen Personenwaagen in die Krise. Die Kontrolle des Körpergewichts hatte sich endgültig in den privaten Bereich verlagert.
1978 stellte Berkel die Produktion der Personenwaagen ein. Die aufgestellten Modelle, lange Zeit von der Firma Szupper betrieben, gingen Ende der Achtzigerjahre an den Familienbetrieb von Andreas und Karin Popp im burgenländischen Pinkafeld über. Sie erwarben beinahe den kompletten Restbestand der Berkel-Waagen und wurden somit zum Quasi-Monopolisten in Wien. Ersatzteile gibt es zwar keine mehr, sie werden aber vom gelernten Schlosser mittlerweile selbst angefertigt. Zwar wurde der Anstrich im Laufe der Jahre adaptiert, dennoch zeichnen sich die Automaten nach wie vor durch ihre Kombination aus Formschönheit und Robustheit aus. Als „Rolls Royce unter den Personenwaagen“, so Popp, seien sie einfach unvergleichlich: ein präzises Qualitätsprodukt, das rein mechanisch funktioniere und überall einsetzbar sei. Bisweilen gebe es zwar Vandalismus, doch seien sie äußerst widerstandsfähig.


Auch die im Zuge der Euro-Umstellung adaptierte Benützungsgebühr von einem Schilling auf 20 Cent erfolgte problemlos. Dass gerade diese Modelle in Wien überlebten, liegt wohl daran, dass, wie es der Wiener Historiker Anton Holzer einmal ausdrückte, die Waagen „Stadtmöbel mit Hindernischarakter“ sind, die zum Innehalten einladen, zum kurzen Verweilen in der Hektik des großstädtischen Alltags. In Betrieb gesetzt werden sie heute meist aus Gründen des Vergnügens und Zeitvertreibs: von staunenden Touristen, von Eltern mit Kleinkindern oder von übermütigen Jugendlichen, die herauszufinden versuchen, wie viele Personen eine Waage auf einmal zu bewältigen imstande ist.


Als technische Kleindenkmäler sind die Personenwaagen zu kuriosen Wahrzeichen der Stadt avanciert. Als „tolles Fotomotiv“, so eine Wienbesucherin im Internet, wirken sie einfach „recht stylisch“ und „ziemlich retro“. Was könnte man Treffenderes über Wien sagen? ■

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