Neue Einblicke in die chinesische Plattentektonik

In der Causa Bo Xilai haben Chinas Blogger eine Transparenz erzwungen, die noch vor Kurzem undenkbar gewesen wäre. Das wird uns bei der nächsten Krise nutzen.

Vier Wochen lang dauerte das Schweigen der Kommunistischen Partei. Seit der Absetzung von Bo Xilai als Parteichef von Chongqing Mitte März war aus Zhongnanhai, dem Hauptquartier der KP in Peking, nichts anderes zu vernehmen als eisige Stille. Selbst der regimetreuen „Global Times“ war zuletzt der Geduldsfaden gerissen: „Ganz China wartet darauf, dass die Partei spricht“, forderte das stramm nationalistische Blatt fast flehentlich in einem Leitartikel.

Am Dienstag hat die Partei endlich gesprochen. Bo Xilai, Sohn eines Weggefährten Mao Zedongs, wurde aus dem Politbüro entfernt, und seine Ehefrau Gu Kailai wegen Mordverdachts festgenommen. „Kein Parteimitglied steht über dem Gesetz“, verkündete das Sprachrohr der KP, die Zeitung „Renmin Ribao“, in einer geradezu bedrohlichen Tonlage. Wo Gu, die Tochter eines hochdekorierten Generals der Volksbefreiungsarmee, festgehalten wird, ist Staatsgeheimnis. Bo hingegen wurde in den Parteikurort Beidaihe verfrachtet – „dorthin, wo die Große Mauer auf das Meer trifft“, wie es die „Financial Times“ poetisch formuliert. Was mit ihm passieren soll, wissen zu diesem Zeitpunkt vermutlich nicht einmal jene Parteifunktionäre, die seinen Sturz betrieben haben.

Dabei hatte Anfang des Jahres alles ganz anders ausgesehen. Unter China-Beobachtern herrschte der Konsens, 2012 werde ein ruhiges Jahr – in der Choreografie der für Oktober angesetzten Wachablöse an der Spitze von Partei und Staat sei kein Platz für Dissonanzen, der Abgang von Hu Jintao und die Inthronisierung von Xi Jinping würden ohne Misstöne über die Bühne gehen. Doch offenbar waren die innerparteilichen Spannungen so stark, dass sich eine Verschiebung der tektonischen Platten weder vermeiden noch verzögern ließ.

Um beim Vergleich mit der Plattentektonik zu bleiben: Wer dieses politische Erdbeben verstehen will, muss drei einander überlappende Schichten betrachten. Da wäre zunächst einmal die Kruste, also die Vorwürfe rund um Bos Herrschaft in Chongqing. Die Antikorruptionskampagne, die er in der 30-Millionen-Agglomeration exekutiert hat, ist der Partei zu weit gegangen – auch angesichts der (offenbar fundierten) Vorwürfe, die Hetzjagd auf angeblich verbrecherische Unternehmer sei nur ein Vorwand gewesen, um an ihre Vermögen heranzukommen und die Pfründe unter Getreuen zu verteilen. Wie die Räuberpistole um den mysteriösen Tod eines britischen Geschäftsmanns, der Gu Kailai zur Last gelegt wird, in dieses Bild passt, ist (noch) nicht klar.

Die zweite Schicht ist der Richtungsstreit in der KP, der gern unter dem Titel „Hardliner gegen Liberale“ subsumiert wird. Mit seiner Mao-Nostalgie stellte sich Bo gegen Parteigranden wie Regierungschef Wen Jiabao, der für eine Modernisierung der KP eintritt. Mit der Demontage von Bo hat der „liberale“ Flügel einen Etappensieg errungen.

Unter dieser ideologischen Ebene liegt aber noch eine dritte Schicht – die Ökonomie. Bis dato funktionierte das chinesische Wunder wie folgt: Die Verbraucher wurden mit Sparzinsen unterhalb des Inflationsniveaus abgespeist und ihre Ersparnisse in Exportwirtschaft und Infrastruktur gepumpt. Das BIP wuchs rasch genug, um höheren Lebensstandard zu gewährleisten. Somit waren alle glücklich – außer jene Volkswirte, die vor Kapitalvernichtung und faulen Krediten warnten.

Das Dumme an der Sache ist nur, dass niemand weiß, wie sich dieser zusehends dysfunktionale Wachstumsmotor abstellen lässt. Die Staatskonzerne, die ohne das billige Geld kollabieren würden, sind nämlich die Machtbasis der KP. Doch der Tag, an dem sie auf Entzug gesetzt werden müssen, rückt unaufhaltsam näher. Und mit ihm die nächste Erschütterung.

Glücklicherweise verfügen Beobachter im Westen über einen halbwegs funktionierenden Seismografen – das Internet. Trotz Zensur haben Chinas Internauten im Fall Bo Xilai eine Transparenz erzwungen, die noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen wäre. Selbst die staatliche Agentur Xinhua sah sich genötigt nachzuziehen und veröffentlichte ein Dossier zur Causa prima. Wer also wissen will, wann die nächste Krise kommt, sollte die chinesische Blogosphäre im Auge behalten.

E-Mails an: michael.laczynski@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.04.2012)

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