Demokratie ist nicht das Zaubermittel, das ein Gemeinwesen, egal, woran es krankt, rasch kräftigt und wieder gesunden lässt. Ein Problem ist, dass viele Parteien heute nicht mehr wissen, wofür sie stehen.
Zunehmend geraten wir in die Sackgasse politischer Orientierungslosigkeit. Die großen Entwürfe von einst haben sich irgendwie erfüllt – zwar nicht so, wie man es sich vielleicht erträumte, aber doch einigermaßen annehmbar.
Nachdem sich die classe politique an den vormaligen Idealen abgearbeitet hat, ist sie gegenwärtig mit den Problemen gähnend leerer Kassen, überbordender Schulden, demografischer Umbrüche, kultureller Verlorenheit und mit dem Mangel an Stil und Taktgefühl, an Redlichkeit und Anstand konfrontiert. Für die Gestaltung eines großen Projekts, gründend auf dem zukunftsweisenden Programm einer sich staatstragend gebenden Partei oder Interessengruppe, fehlen anscheinend Mut und Zuversicht.
Unter diesen Umständen tönt es wie das Rufen des Furchtsamen im dunklen Wald, wenn „mehr Demokratie“ gefordert wird. Gleichsam, als stelle Demokratie das Zaubermittel dar, welches ein Gemeinwesen, egal, woran es krankt, in Windeseile kräftigt und gesunden lässt. Das ist natürlich purer Unfug. Demokratie ist dem Worte nach ja nichts anderes als eine Form der Herrschaft, nämlich jener des gesamten Volkes.
Auf griechische Quellen fußend verglich Cicero sie mit der Monarchie, also der Regentschaft eines Einzelnen, und der Aristokratie, also der Führungsrolle einiger weniger Auserwählter, die im günstigsten Fall die „Besten“ sein sollten – wobei niemand so genau weiß, nach welchem Kriterium. Cicero kam zu dem Schluss, dass jede dieser Herrschaftsformen Vor- und Nachteile in sich trage. Fürs Gedeihen eines demokratisch verfassten Staates ist zumindest geboten, dass der „demos“, also die Gemeinschaft der wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger, die in der Sprache der Politiker die „Menschen draußen“ oder „der kleine Mann, die kleine Frau“ heißen, gebildet genug sind, sich der Tragweite ihrer Entscheidungen bewusst zu sein. Nur ein Staat mit einem soliden Schulsystem kann auf Demokratie setzen.
Doch selbst wenn diese Bedingung erfüllt ist, darf man von der Demokratie nicht zu viel erwarten. Es genügt vollauf, wenn sie ein Verfahren darstellt, mit dessen Hilfe man ohne Anwendung von Gewalt eine nur auf Zeit eingesetzte Regierung und ein nur auf Zeit eingesetztes Parlament gegebenenfalls durch andere Personen und durch Änderung der Mandate neu beauftragen kann.
Nachdem die Verantwortung den politischen Akteuren übertragen wurde, sollten diese sie auch nach bestem Wissen und Gewissen, nicht aber mit dem Schielen auf Umfragen wahrnehmen. Eine direkte Demokratie, in der jedes politische Vorhaben dem Stimmvolk unterbreitet wird, mag allein in der Schweiz mit ihrer einzigartigen Tradition und begleitet von ihrem stabilen Wohlstand tragfähig sein.
Würde man in Österreich direkte Demokratie einführen wollen, würden sich mutlose Politiker hinter der Volksmeinung verstecken, bei der zu befürchten ist, dass sie dem Zeitgeist folgt: „Sozial gerecht ist in“ und „Neoliberal ist out“, oder dass sie pseudoreligiösen Dogmen gehorcht: „Bio ist gut“ und „Atom ist böse“, nicht aber nach ernstem Erwägen gebildet wird.
Wenn Parteien nicht mehr wissen, wofür sie stehen (und die am Horizont auftauchenden neuen Gruppierungen dürften dies noch weniger überblicken als die bereits ergrauten), hilft der Ruf nach mehr Demokratie nicht weiter.
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Zum Autor:
Rudolf Taschner ist Mathematiker und Betreiber des math.space im quartier 21, Museumsquartier Wien.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.04.2012)