Vorstoß gegen Lücken in EU-Grenzen

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Der deutsch-französische Vorschlag für „neue“ Grenzkontrollen bestätigt im Kern das geltende europäische Recht. Die Innenminister wollen es aber genauer fassen.

Ein Brief der Innenminister Deutschlands und Frankreichs löst ein ohrenbetäubendes Rauschen in Europas Blätterwald aus: „Berlin und Paris wollen Grenzkontrollen zurück – Aus Angst vor illegaler Zuwanderung“, las man zum Beispiel am Freitag in der „Süddeutschen Zeitung“. Die Mitgliedstaaten sollen laut dem Vorschlag von Hans-Peter Friedrich und Claude Guéant „die Möglichkeit einer auf 30 Tage befristeten Wiedereinführung der Binnen-Grenzkontrollen haben“, steht in dem Schreiben an die dänische Regierung, die derzeit den EU-Vorsitz führt und die Ministerratstreffen vorbereitet. Das sei zur Aufrechterhaltung der nationalen Souveränität erforderliche, wenn ein Schengen-Mitgliedstaat mit EU-Außengrenze seine Pflicht zur Kontrolle derselben verletzt. Gemeint ist damit in erster Linie Griechenland, das seine Grenze zur Türkei nicht im Griff hat. Drei von vier illegalen Einwanderer schlüpfen derzeit durch dieses griechische Nadelöhr in die EU.

Liest man sich allerdings den geltenden Text des Schengener Grenzkodex durch, fällt dieser deutsch-französische Vorstoß nicht als wilder Angriff auf die Idee des grenzenlosen Reisens auf, wie er postwendend in zahlreichen Kommentaren einsortiert wurde. Denn schon jetzt dürfen die Staaten vorübergehend Grenzkontrollen an ihren Grenzen zu anderen Schengenländern einführen. Artikel 23 nennt als Bedingung dafür den Fall „einer schwerwiegenden Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder inneren Sicherheit“. Ein Beispiel dafür lieferten Schweden und Norwegen (auch dieses Nicht-EU-Land ist Schengen-Vertragspartei) letzten Sommer, als kurzfristig die Landesgrenzen gesperrt wurden, um den Massenmörder Anders Breivik an einer möglichen Flucht zu hindern. Diese Grenzkontrollen dürfen „für den begrenzten Zeitraum von höchstens 30 Tagen“ eingeführt werden – aber auch länger, wenn die „schwerwiegende Bedrohung“ länger dauert. Diese 30-tägigen Kontrollen dürfen übrigens völlig legal und im Extremfall bis in alle Ewigkeit wiederholt werden. Der Schengenkodex schreibt nur vor, dass das betreffende Mitgliedsland die Europäische Kommission und die anderen Mitgliedstaaten vorab darüber zu informieren hat (außer in akuten Notsituationen wie dem erwähnten Breivik-Fall).

Das Problem hier liegt in der Definition der „schwerwiegenden Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder inneren Sicherheit“. Diese Formulierung macht Artikel 23 zu einem Gummiparagrafen, der zu innenpolitisch motiviertem Missbrauch anreizt. Als zum Beispiel zum Auftakt des „Arabischen Frühlings“ Tausenden Tunesier über Italien nach Frankreich einzureisen versuchten, ohne die dafür erforderlichen Papiere zu haben, machte Innenminister Guéant einfach die Grenze an der Cote d'Azur dicht. Bedroht so eine Flüchtlingswelle die „öffentliche Ordnung“? Schwer zu sagen. Sicher aber bedroht die Unfähigkeit der griechischen Behörden zu einer wirksamen Grenzkontrolle die Teilnahme Griechenlands am Raum des grenzenlosen Reisens, den der Schengenkodex eröffnet. Nicht nur Deutschland und Frankreich verlieren nach und nach die Geduld mit Athen.

Insofern legt dieser Brief einen Mechanismus fest, mit dem sich künftig schwere Versäumnisse eines Schengenlandes bei der Kontrolle der eigenen Grenzen beseitigen lassen könnten. Friedrich und Guéant schlagen vor, dass die Kommission (im Gegensatz zu bisher) ständig die Lage an Europas Außengrenzen überwacht und Staaten, die Probleme haben, mit Rat und Tat (zum Beispiel durch den Einsatz der Grenzschutzagentur Frontex) zur Seite steht. Fruchtet das nichts, solle die Kommission dem Rat, also dem Entscheidungsgremium der Regierungen, die zeitweilige Schließung der Grenzen empfehlen. Den Beschluss darüber behalten sich die Innenminister aber selber vor. Die Hoheit über die eigenen Grenzen lässt sich kein Innenminister so einfach nehmen – das werden die Minister auch nächsten Donnerstag bei ihrem Ratstreffen in Luxemburg der EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström einmal mehr ins Stammbuch schreiben.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.04.2012)

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