Buben und Mädchen: Der große Unterschied

Buben Maedchen grosse Unterschied
Buben Maedchen grosse Unterschied(c) Clemens Fabry
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Buben lieben Autos und laufen gern. Mädchen lieben Puppen und reden gern. Heißt das, dass sie von Natur aus gar nicht anders können? Oder werden ihre Gehirne schon sehr früh durch Erziehung und Sozialisation blau und rosa gefärbt?

Noah war noch keine 15 Monate alt, als er auf der Straße regelmäßig in Ekstase geriet. Er beugte sich in seinem Kinderwagen vor, stieß begeisterte Laute aus – reden konnte er noch nicht – und stellte damit seine Eltern vor ein Rätsel. Es gab keine Straßenbahn im Umkreis, keinen Bus, keinen Wagen der Müllabfuhr. Es dauerte einige Zeit, bis sie den Konnex herstellten: Motorräder, am Straßenrand abgestellt, waren es, die ihren Sohn in Verzückung versetzten. Mit Stofftieren hatte Noah es hingegen nie. Die waren – und blieben – die Domäne seiner Schwester, die Bärli und Hasi liebevoll hegte, pflegte, wickelte und mit besten Absichten im Bad ertränkte.

Die Eltern von Noah und Franziska stellte das vor eine Frage, mit der sich nicht wenige Mütter und Väter herumschlagen: „Wie kommt das? Wir haben unsere Kinder gleich behandelt, haben ihnen die gleichen Spielsachen angeboten.“ Als einziger Berührungspunkt erwies sich der Puppenwagen, wenn auch mit geringfügigen Abwandlungen: Franziska kutschierte damit ihre flauschigen Freunde herum, Noah reduzierte ihn auf den Umstand, dass er Räder hatte. „Brumm-Brumm“, schloss Noahs Mutter, „ist offenbar auf dem Y-Chromosom angesiedelt.“

Ob sie mit diesem Witzchen ins Schwarze getroffen hat, wird sie allerdings nicht so bald erfahren. Denn unter Wissenschaftlern klaffen die Meinungen, was Buben zu Buben und Mädchen zu Mädchen macht, hartnäckig auseinander. Der Streit zwischen „Nature“ (der neurologisch-biologischen Denkschule) und „Nurture“ (Erziehung und Sozialisation) tobt ebenso unvermindert wie unentschieden weiter – einmal stärker in die eine, einmal stärker in die andere Richtung, gesteuert von gesellschaftspolitischen Interessen und Ideologien.

Dominierte im Fahrwasser der 68er-Generation die Idee, dass Geschlecht ein soziales Konstrukt ist und beliebig gestaltet werden kann, wendete sich das Blatt ab den 1990er-Jahren zugunsten der rapide voranschreitenden Hirnforschung. Diese lieferte dann auch entsprechende Ergebnisse: Buben haben eine stärker ausgeprägte rechte Gehirnhälfte. Räumliches und mathematisches Denken sowie die Bewegungskoordination werden rechts verarbeitet. Deshalb sprechen Buben auf alles an, was sich bewegt. Links sitzt hingegen das Sprachzentrum, das maßgeblich an der Ausbildung sozialer Fähigkeiten beteiligt ist. Außerdem sind die beiden Gehirnhälften bei Mädchen besser vernetzt.


„Talkers“ und „Walkers“. Das, so die Schlussfolgerung, macht Mädchen schon früh zu verbaleren und sozialeren Wesen („Talkers“), während Buben sich zwar schlechter ausdrücken, dafür aber schneller entscheiden und sich besser bewegen können („Walkers“): „Mit einem Jahr beträgt der Unterschied in der Sprachentwicklung zwischen Buben und Mädchen ungefähr vier Wochen“, sagt Brigitte Rollett, ehemalige Leiterin der Abteilung für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie an der Uni Wien. Dafür sind kleine Buben den Mädchen rund zwei Monate voraus, wenn es um Bewegung geht. Und auch bei den Besuchen in der Unfallabteilung der örtlichen Krankenhäuser. Obwohl männliche Säuglinge eher als stressanfällig gelten, zeigen sie oft weniger Angst als ihre weiblichen Gegenüber.

Mädchen sind dafür schon sehr früh Meisterinnen, was Gesichtsausdrücke und Gesten angeht. Sie zeigen viel früher als Buben die Fähigkeit zur Nachahmung, reagieren stärker auf menschliche Stimmen und halten länger Augenkontakt. Im Kindergartenalter bevorzugen sie oft feinmotorische Aktivitäten wie Basteln, Buben ziehen hingegen in die Bauecke ab oder gehen zum Toben auf die Matte.

Als Ursache wird gern die Evolution angeführt. Männer seien darauf angewiesen gewesen, in Gefahrensituationen schnelle Entscheidungen zu treffen und ebenso rasch (und nicht immer sehr überlegt) zu handeln, wobei ihnen auch das Hormon Testosteron den nötigen Kick verpasste. Frauen hingegen hätten jahrtausendelang Kinder aufgezogen und mit diesen kommuniziert.

Diese Erkenntnisse schienen von der Verhaltensforschung bestätigt zu werden. 2001 veröffentlichte Simon Baron-Cohen von der Universität Cambridge eine Untersuchung, die in der Mädchen-Jungs-Diskussion oft zitiert wird. Neugeborenen wurden ein Mobile und ein menschliches Gesicht gezeigt. Buben verharrten länger beim (sich bewegenden) Mobile, Mädchen beim Gesicht.

Vor drei Jahren wurden diese Ergebnisse allerdings hinterfragt, und zwar von der US-Neurobiologin Lise Eliot. Ihr Buch „Pink Brain – Blue Brain“ unternahm den Versuch, die von Natur aus festgelegten Geschlechtermerkmale wieder Sozialisierung und Erziehung unterzuordnen.


Buben sind wild, basta?Zwar leugnet Eliot die neurobiologischen Unterschiede nicht, behauptet aber, dass diese ihre wahre Bedeutung erst durch die Interaktion mit der Umwelt erhalten. Dieser Ansatz wird von Untersuchungen gestützt, die nachwiesen, dass Erwachsene weibliche und männliche Babys anders behandeln. So wurde mit männlichen Säuglingen etwas forscher umgegangen als mit weiblichen. Und allein dieser winzige Aspekt in der Interaktion setzt sich in der gesamten Kindheit fort: Buben werden von Erwachsenen viel häufiger hochgeschupft und herumgewirbelt als kleine Mädchen.

Und diese unbewussten kleinen Unterschiede im Umgang mit dem großen Unterschied werden mit jedem Jahr mehr statt weniger. Auch Eltern, die Geschlechterstereotypen bewusst oder unbewusst gegensteuern, stehen – fast – auf verlorenem Posten zwischen Peers, Großeltern und den Einflüssen des Medien- und Spielzeugmarktes. „Ein Beispiel ist Lego“, sagt Philipp Leeb, der sich seit 2008 mit seinem Verein Poika um gendersensible Bubenarbeit bemüht. „In den 1960er- und 70er-Jahren war Lego ein Spielzeug für alle. Heute gibt's jede Menge rosa Lego, weil das die Mädchen wollen.“

Andererseits geben Eltern ihren Kindern sehr wohl auch jene Botschaften weiter, die den Stereotypen widersprechen: wie in einer Familie, in der nur die Mutter Auto fährt und die Töchter partout nicht verstehen, warum in anderen Familien der Mann am Steuer sitzt.


Nord-Dakota, Süd-Dakota. Ob die Geschlechter aufgrund ihrer natürlichen Anlagen so weit voneinander entfernt sind wie Mars und Venus oder eher – wie Lise Eliot glaubt – so weit wie „Nord- und Süd-Dakota“, ist für viele Aspekte der gesellschaftspolitischen Debatte nicht unerheblich.

Zum Beispiel für das, was seit einigen Jahren im deutschsprachigen Raum als „die Krise der Kerle“ durch die Medien geistert. Dieser Ansatz begreift den Geschlechterkampf als Nullsummenspiel: In dem Ausmaß, in dem die Frauen gesellschaftlich an Macht und Einfluss gewonnen haben, lautet die Diagnose, haben die Männer abgebaut. Was bleibt, so der Eindruck, ist ein entmännlichter, verunsicherter Haufen mit diffusem Rollenbild.

Dieses Problem hat nach Ansicht vieler Experten seine Wurzeln bereits in der Kindheit. Deshalb beschäftigt es derzeit alle, die mit Kindergärten und Schule zu tun haben. Bildungsinstitutionen, die sich mit braven Mädchen wesentlich leichter tun als mit wilden Jungs, wissen nicht so recht, wie sie damit umgehen sollen, dass Buben und Burschen zunehmend zum Problem werden. Das schlägt sich unter anderem in den Diagnosen der Aufmerksamkeitsdefizits- und Hyperaktivitätsstörung ADHS nieder. Diese wird bei Buben deutlich öfter diagnostiziert als bei Mädchen – und das derzeit in einem bedenklichen Ausmaß. „Die normale Inzidenz liegt zwischen drei und sieben Prozent“, sagt Brigitte Rollett. „Gemeldet werden teilweise 25 Prozent.“

Dieser Umstand wird von vielen als Indiz dafür gewertet, dass Buben nicht „artgerecht“ behandelt werden. Ihrem großen Bedürfnis nach körperlicher Bewegung werde nicht Rechnung getragen, ebenso wenig ihren oft unterentwickelten sozialen Fähigkeiten und ihrem Defizit im Ausdruck im Vergleich zu den Mädchen. Dafür gelte alles das, was Buben „starkmacht“, als unerwünscht: Rangeln und Raufen sind auf Schulhöfen im 21. Jahrhundert nicht sehr gerne gesehen.


Instabile Rollenbilder? Die Frage, wie man dieses Problem angeht, wird stark davon abhängen, wie man die Unterschiede zwischen Buben und Mädchen definiert. Anhänger der neurobiologischen und genetisch programmierten Denkschulen pochen darauf, dass Buben und Mädchen im Wesentlichen so sind, wie sie sind, und dass jeder Versuch, geschlechtsimmanente Verhaltensmuster zu ändern, nur Schaden anrichten und das gesamte Rollenbild destabilisieren kann. Kindern, so meinen sie, sollte zumindest bis zur Pubertät die Chance gegeben werden, ein gefestigtes Selbstbild auszubilden (siehe Interview unten).

Wer hingegen an das Primat von Erziehung und Sozialisation glaubt, muss darauf setzen, Entwicklungs- und Verhaltensdefizite durch aktives Gegensteuern auszugleichen. Wie Philipp Leeb mit Poika, der glaubt, dass Jungen auch deshalb über weniger Sozialkompetenz verfügen, weil sie einfach viel weniger als Mädchen aufgefordert werden, etwa über ihre Gefühle zu sprechen (siehe Interview oben).

Und die Eltern? Die können sich überraschen lassen: davon, wie sehr ihr Bub ein Bub ist. Oder davon, dass ihm eine Puppe doch wichtiger ist als ein Auto.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.04.2012)

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