Der blinde Bürgerrechtler Chen Guangcheng konnte nach vier Jahren Haft und eineinhalb Jahren Hausarrest den Behörden entfliehen. Chen gilt als eine der Schlüsselfiguren der jüngeren Bürgerrechtsbewegung.
Peking. Die Sicherheitsorgane der chinesischen Provinz Shandong stehen blamiert da: Ausgerechnet der blinde Bürgerrechtler und Anwalt Chen Guangcheng konnte nach vier Jahren Haft und eineinhalb Jahren Hausarrest seinen Bewachern entkommen. Es gelingt also selbst in einem Polizeistaat wie China zuweilen, den Sicherheitskräften ein Schnippchen zu schlagen.
Chen gilt als eine der Schlüsselfiguren der jüngeren Bürgerrechtsbewegung. Blind ist der heute 40-Jährige bereits seit seiner frühen Kindheit infolge einer schweren Krankheit. Er hatte sich die Juristerei selbst beigebracht und sich zunächst gegen Zwangsabtreibungen und Zwangssterilisationen im Zuge der chinesischen Ein-Kind-Politik eingesetzt. Immer wieder gelang es ihm, die Machtwillkür chinesischer Behörden anzuprangern. Als Sicherheitskräfte ihn mehrfach zu Hause aufsuchten und zusammenschlugen, wurden auch westliche Diplomaten und Menschenrechtsorganisationen auf ihn aufmerksam. Vor allem die USA hatten sich für seine Freilassung eingesetzt.
Mitte des vergangenen Jahrzehnts verurteilte ihn ein Gericht zu einer vierjährigen Haftstrafe, die er bis September 2010 verbüßte. Frei war er danach aber nicht. Ohne rechtliche Grundlage – auch nach chinesischem Gesetz – stand er seitdem in seinem Haus im Dorf Dongshigu in der zentralchinesischen Provinz Shandong unter Hausarrest.
Nun ist die Familie in Gefahr
Bis vor Kurzem. Die Bürgerrechtlerin He Peirong berichtet, Chen sei Sonntagabend über eine Mauer seines Hauses geklettert. Ohne Hilfe sei ihr blinder Mitstreiter dann stundenlang gelaufen, bevor er Kontakt zu ihr aufgenommen habe. Freunde von ihr hätten ihn an einen sicheren Ort gebracht.
Die Staatssicherheit hat die Fahndung aufgenommen und warnt: Sicherheit für ihn gebe es nun nicht mehr. Die Menschenrechtsorganisation ChinaAid mit Sitz in den USA hingegen beteuert, dass Chen sich „an einem absolut sicheren Ort in Peking“ aufhalte. Ob es die US-Botschaft ist, wollte sie nicht bestätigen. „Wir haben im Moment keine Informationen“, heißt es dort.
Sorge bereitet Menschenrechtlern nun die Sicherheit der Familie. Da ist die Nachrichtenlage widersprüchlich: Die Organisation „Human Rights in China“ berichtet, dass Dorfkader in das Haus von Chens Bruder und Neffen eingedrungen seien. Als der Neffe sich mit einem Küchenmesser wehrte, seien die Beamten geflohen. Aus Angst halte sich der Neffe seither versteckt. Bob Fu, ein in Texas lebender Aktivist mit engen Kontakten zu Chen, hingegen sagt: Neffe und Bruder seien in Haft, Soldaten hätten das Anwesen der Familie umstellt. So schnell gibt sich der Polizeistaat nicht geschlagen.
Chen wandte sich daher in einem Video direkt an Premier Wen Jiabao und forderte Sicherheit für seine Familie, speziell seine Frau und seine Tochter. Zudem rief er den Premier dazu auf, die Gewalt, unter der er und seine Familie zu leiden hatten, zu untersuchen. Dabei nannte er auch konkrete Namen von lokalen Beamten, die dafür verantwortlich seien.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.04.2012)