Über die kreative Kraft des Selbstzweifels

Welche Brüche in meiner Biografie stellen meine Identität infrage? Welche Kräfte können sie freisetzen?

Charlie Chaplin, die wohl strahlendste Ikone des Humors im 20. Jahrhundert, erlebte eine Kindheit voller Traumata. Sein Vater war Alkoholiker und vernachlässigte die Kinder. Die alleinerziehende Mutter Hannah war so mittellos, dass Chaplin mit sieben Jahren in einem Londoner Workhouse arbeiten musste. Er wurde von seiner Mutter getrennt, kam in ein Waisenhaus, wurde misshandelt.

Mit neun Jahren musste er erleben, wie die Mutter eine Psychose erlitt. Mit zwölf verlor Charlie seinen Vater; für Monate fühlte er sich vor Trauer unfähig zu atmen. Mit 14 musste er Mutter Hannah endgültig ins Irrenhaus bringen und ihr Schicksal akzeptieren.

»Als Jesus wusste, dass seine Stunde gekommen war, um aus dieser Welt zum Vater
hinüberzugehen. . .

«

Joh 13,1

Inmitten dieses Desasters entwickelte Chaplin sein Talent und seinen Willen, Komödiant zu werden. Als 18-Jähriger erlebte er seine ersten größeren Bühnenerfolge in London, sechs Jahre später folgte sein Filmdebüt in Los Angeles.

Während des Ersten Weltkriegs brachte er die Welt als „The Tramp“ zum Lachen, während des Zweiten Weltkriegs verhöhnte er Hitler in „The Great Dictator“. Wie konnte ein in seiner Kindheit zutiefst traumatisierter Mensch zum Inbegriff intelligenten Humors und der Aufheiterung in Krisenzeiten werden?

Wenn man der Biografie des Filmkritikers John McCabe Glauben schenkt, erinnerte sich Chaplin an eine Kindheitsszene von symbolischer Bedeutung. Mutter Hannah habe dem kranken Kind aus den Evangelien vorgelesen. Jesu Ausruf am Kreuz „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?!“ erklärte sie als Ausdruck seiner Menschlichkeit, da selbst er Zweifel gehabt habe – worauf Hannah und Charlie gemeinsam weinten.

Was an diesem Tod so bewegend ist − die dramatische Spannung zwischen Todesangst und vollkommener Hingabe –, fasst der Evangelist Johannes in einem einzigen Vers zusammen. „Als Jesus wusste, dass seine Stunde gekommen war“ − kein selbstsicheres und bequemes Wissen, sondern voll kaltem Schweiß der Todesangst –, „liebte er die Seinen bis zur Vollendung.“ Die totale Infragestellung seines menschlichen Lebens befähigte Jesus zur absoluten Liebe.

Transformierte Selbstzweifel finden sich in den Berufungsgeschichten aller biblischen Propheten. Mose, der behauptet, nicht reden zu können, wird zum größten Redner der Bibel.

Selbstzweifel finden sich in den Biografien aller Genies. Chaplin hielt sich zwar für den größten Schauspieler der Welt, war aber von einem unsicheren Perfektionismus getrieben. Erst an seinem 70. Geburtstag war er zum Schreiben des Gedichts „Als ich mich selbst zu lieben begann“ fähig – ein Ausdruck seiner Versöhnung mit dem eigenen Leben. Welche Brüche meiner Biografie stellen meine Identität infrage? Welche kreativen Kräfte können sie freisetzen?


Bimail steht für Bibelmail, ein wöchentliches Rundschreiben des Teams um Pater Georg Sporschill, adressiert an Führungskräfte. Darin werden Lehren aus der Bibel auf das Leben von heute umgelegt.


E-Mails: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.04.2012)

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