Lueger und die Lausbuben

(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Als der heutige „Lueger-Ring“ und morgige „Universitätsring“ noch „Ring des 12. November“ hieß: Vor 80 Jahren erreichten die antisemitischen Ausschreitungen an der Universität Wien einen ersten Höhepunkt.

Die Stiege hinunter, schnell,schneller, nur nicht stolpern, nicht hinfallen, die Schreie, die Schläge, die Tritte, die Stöße, Juden raus!, Juden raus!, dieHalle, die Aula, die Hiebe, die Tritte, das Tor, das Blut, die Bäume, die Häuser, die Straße, die Menschen, die stummen Menschen, die schreienden Menschen, die stummen Polizisten, die Rettungsleute, immerhin.

23. Juni 1931. Schauplatz: UniversitätWien, Hauptgebäude. Adresse: Ring des12.November, wie er, hervorgegangen aus dem Franzensring, seit 1919 hieß (im Gedenken an die Ausrufung der österreichischen Republik am 12. November 1918) und bis 1934 heißen sollte. Heutige Adresse: Dr.-Karl-Lueger-Ring. Ab kommendem Sommer: Universitätsring.

Eine zugleich allegorische und naturalistische Zeichnung auf einer Titelseite des sozialdemokratischen „Kleinen Blattes“ vom 25. Juni 1931 zeigt die Situation. Durch eine Öffnung blickt man ins Freie, sieht ein Gebäude mit mächtiger Fensterfront, dazu Bäume, Teile einer Balustrade. Erkennbar handelt es sich um den Blick aus der Aula der Universität Wien auf die Ringstraße. In der Bildmitte, vor dem Ausgang, eine allegorische weibliche Figur im langen, antiken Gewand, einen Arm hält sie schützend vor das Gesicht, den anderen hat sie über den geducktenKopf gezogen. Das Kleid zerrissen, eine Schärpe trägt die Aufschrift „Kultur“. Rings um sie lemurenartige Gestalten, SA-Kappen- und Studentenmützenträger mit zerhackten Visagen und schräg wie zum Hitlergruß nach oben gerissenen Armen, in den Fäusten Knüttel, Stöcke, einer schwingt etwas, was eine Schlagrute sein könnte. Auf dem Boden verstreute Gegenstände: ein zerbrochener Spazierstock, ein zertrampelter Hut, eine zertrampelte Damenhandtasche, zertrampelte, zerrissene Bücher, eine Aktentasche, eine Blutlache. Einige Seiten weiter in derselben Ausgabe des „Kleinen Blattes“ ein grob gerastertes Foto. Eine Kette von Polizisten am Fuß der Freitreppe, die leer ist, während sich oben am Eingang die Menschen ballen. Bildunterschrift: „Die Polizei schaut zu, wie an der Universität Menschen blutig geschlagen werden.“

Es war nachgerade ein akademisches Ritual, das hier ablief. Nicht zufällig hatte das linksliberale Satiremagazin „Götz“ schon Mitte 1925 mit bitterem Spott geschrieben: „Der Ring des 12. November soll auf besonderen Wunsch der Studenten abermals umbenannt werden. Der Magistrat der Stadt Wien hat sich für die Bezeichnung ,Schlagring‘ entschieden.“

Die Wurzeln der universitären Gewalt reichen freilich viel tiefer als bis 1925. Schon seit den frühen 1880er-Jahren – zugleich mit dem Einsetzen des „modernen“ Rassenantisemitismus – stand an den Universitäten und Hochschulen in Wien und in anderen Städten der Monarchie Gewalt gegen jüdische Studenten auf der Tagesordnung. Die Täter waren ausnahmslos Burschenschafter, die „schlagenden“ Verbindungen angehörten. Kein Zufall also, dass sie sich mit Schlagwaffen aller Art für die akademische Hetz und Hatz rüsteten.

Um 1930 hatte sich längst ein bewährtes Muster eingespielt: Überfallsartig stürmten die Deutschnationalen, die man nunmehr getrost durchwegs als Nazis bezeichnenkonnte, unter Rufen wie „Juda verrecke!“, „Judenhinaus!“ Hörsäle und Bibliotheken. In aller Regel nahmen die Professoren diese Vorgänge widerstandslos hin. Die meisten der akademischenLehrer jener Jahre teilten ohnehin die antisemitische Haltung der Täter, zudem dürften sie wenig Lust gehabt haben, selbst Schläge abzubekommen. Eine Mischung aus stiller Kumpanei, Opportunismus und Feigheit. Mit dieser Haltung sollten es viele Professoren, sofern sie keine Juden oder bekennende Linke waren, problemlos durch den Ständestaat und die NS-Ära in die Zweite Republik bringen.

Ein beliebter Ausgangspunkt derartigerpogromartiger Ausschreitungen war dersamstägliche „Bummel“ der deutschnationalen Verbindungen in den Wandelgängen der Universität. Immer stärker wurden zudem tagesaktuelle politische Ereignisse zum Anlass für Krawalle genommen. Ende Mai 1932 war es beispielsweise eine blutige Saalschlacht zwischen Sozialdemokraten und Nationalsozialisten im fernen Innsbruck, die Grund genug war, in Wien über Studenten jüdischer Herkunft herzufallen.

Alle auf irgendeine Weise als „jüdisch“ Identifizierten, aber auch „Arier“, die als Sozialdemokraten und Kommunisten bekannt waren, wurden auf die Gänge und in die Aula geprügelt. Dort hatten sie einen regelrechten Spießrutenlauf durch eine von ihren Verfolgern gebildete sogenannte Salzergasse (so Bruno Kreisky in seinen Erinnerungen) zu absolvieren, um ins Freie zu gelangen. „Aus dem Inneren der Universität“, schreibt das „Kleine Blatt“ in einem seiner zahllosen Berichte, „dringt Indianergeheul. Die Lausbuben vom Hakenkreuz haben also wieder ein Opfer gefunden. Seit Stunden wird diese Menschenjagd geduldet. Immer wieder taumeln blutüberströmte Studenten über die Rampe herunter.“

Die Germanistin Minna Lachs erinnerte sich, dass Studenten sogar noch auf der Universitätsrampe vor den Augen aller – insbesondere der Polizei – zusammengeschlagen wurden. „Wir anderen standen hinter dem Polizeikordon und konnten nur ohnmächtig mit Schreien protestieren. Ich stand hinter einem älteren, grauhaarigen Polizisten und merkte gar nicht, was ich schluchzend in ohnmächtiger Wut schrie. Er drehte mir seinen Kopf zu und flüsterte: ,Vorsicht, Fräulein, die merken sich Ihr Gesicht, und dann kommen Sie dran.‘“

Gerade diese Tatenlosigkeit der Polizei empfanden die Opfer der Gewalt als besonders schlimm. Das bezeugen zeitgenössischeDarstellungen ebenso wie viele Jahrzehnte später verfasste Lebenserinnerungen deutlich. Kränkend und angsteinflößend zugleichwar es, dass der von den antisemitischen Christlichsozialen in Koalition mit den antisemitischen Deutschnationalen regierte Staatnicht bereit war, seinen jüdischen Bürgern angemessen Schutz zu gewähren. Geradezu prophetisch schrieb die zionistische Wochenzeitung „Die Stimme“ daher im Sommer 1932: „Wir gehen schweren Gefahren entgegen.“ – Die Wiener Polizei redete sich auf die angebliche Hochschulautonomie heraus. Polizeipräsident Franz Brandl – der bezeichnenderweise nach seiner Entlassung im Frühjahr 1933 demonstrativ der NSDAP beitrat – schrieb 1931 in einem Beitrag für eine Wiener Montagszeitung, dass es sich bei der polizeilichen Untätigkeit „mehr um eine Frage der praktischen Erwägungen als des Rechtes“ handle. Es wäre geradezu eine „Herabwürdigung der Wissenschaft“, auf akademischem Boden einzuschreiten, ohne dazu von maßgeblichen Hochschulfunktionären gerufen worden zu sein. Die Rektoren jener Zeit – nicht weniger als ihre Studenten antisemitisch, deutschnational, wenn nicht gar nazistisch eingestellt – dachten freilich nicht im Traum daran. Bestenfalls konnten sie sich zu ein paar wertlosen beschwichtigenden Worten und nutzlosen Gesten aufraffen, die sich wie eine Verhöhnung der Opfer anhörten. Und wohl auch so gedacht waren.

Die Wiener Universitäten und Hochschulen galten von jeher als Hort starker nationaler Gesinnung. Deutschnationale und katholische Korporationen gaben den Ton an. Sie waren in der Deutschen Studentenschaft organisiert, einem 1919 in Würzburg gegründeten Studenten-Dachverband des gesamten deutschen Sprachraums. Ausschließlich „deutsch-arische“ Hörer waren hier willkommen. Die Technische Hochschule Wien führte bereits 1923 einen Numerus clausus ein, der die Höchstgrenze der jüdischen Hörer je Fakultät mit zehn Prozent fixierte.

Die anhaltende Wirtschaftskrise führte Anfang der 1930er-Jahre zu rigorosen Sparmaßnahmen und Kürzungen an den Hochschulen, zudem verschärfte sich der Kampf um die wenigen freien Arbeitsstellen, die nach Abschluss des Studiums zu ergattern waren. Die Schuld an dieser Situation wurde –wie auch anders? – „sittlicher Orientalisierungund rassischer Judaisierung“ zugeschoben. So eine Denkschrift derDeutschen Studentenschaft der Hochschulefür Bodenkultur aus dem Jahr 1925. Als Vertreter der katholischen Minderheitsfraktion hatte auch Leopold Figl das Dokument unterzeichnet. In diesem Klima war es wohl nur folgerichtig, dass der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund bei den Wahlen zur Deutschen Studentenschaft im Jahr 1931 an sämtlichen Wiener Universitäten und Hochschulen die erste Stelle erreichte.

Am 23. Juni 1931 hob der Verfassungsgerichtshof eine vom pränazistischen Rektor der Universität Wien, Wenzel von Gleispach, erlassene „Studentenordnung“ auf, die die Bildung von „Studentennationen“ vorgesehen hatte. Nationalsozialistische und katholische Studenten hatten sich gemeinsam dafür starkgemacht. Maßgeblich für die Universitätszulassung sollte nicht die Staatsbürgerschaft, sondern eine „Volksbürgerschaft“ nach rassischen Kriterien sein. Eine frühe Vorwegnahme der Nürnberger Gesetze. Die christlichsoziale „Reichspost“ fand „nichts begreiflicher, als dass der Gerichtsspruch die akademischen Gemüter in Wallung brachte“. Die Folge: schwere Ausschreitungen, Übergriffe auf jüdische, sozialdemokratische und kommunistische Studenten. Für mehrere Stunden klebten an den Säulen am Eingang zur Universität gelbe Kartons mit roter Schrift: „Juden Eintritt verboten!“ Im selben Ton und beinahe im Wochentakt ging es in den nächsten Monaten und Jahren weiter.

Zum Exzess steigerten sich die pogromartigen Krawalle am 9. Mai 1933. Laut Polizeibericht kam es an diesem Dienstagvormittag am Anatomischen Institut in der Währinger Straße zu „tätlichen Konflikten zwischen nationalen und jüdischen beziehungsweise sozialistischen Studenten“. Das „unter Vorzensur“ stehende „Kleine Blatt“ schrieb hingegen, dass die Nationalsozialisten das gesamte Haus besetzt und „systematisch alle Studenten, die den Nazis nicht zu Gesicht standen“, mit Totschlägern, Gummiknüppeln und Sesselbeinen angegriffen hätten. Einige verbarrikadierten sich im Hörsaal, erlagen aber schließlich der Übermacht; andere sprangen in ihrer Angst aus dem Hochparterre ins Freie und verletzten sich dabei; einige Studentinnen konnten über eine Leiter, die Passanten von einem vorbeifahrenden Feuerwehrwagen genommen hatten, flüchten. Die NS-Studenten versuchten, teure Röntgenapparate zu demolieren, was jedoch „mit äußerster Mühe“ verhindert werden konnte. 21 Opfer meldeten sich anschließend auf der Unfallstation mit Verletzungen, fünf von ihnen hatten Knochenbrüche oder schwerere Kopfverletzungen erlitten. Die schließlich von der Währinger Straße abgedrängten Nazis versuchten daraufhin, in das Universitätshauptgebäude einzudringen, was einem Teil gelang. Auf der Straße erhielten sie „Zulauf durch hochschulfremde Gesinnungsgenossen“, mit denen sie in der Stadt herumzogen, um weitere Unruhe zu stiften. Die Polizei meldete insgesamt 30 Verletzte sowie zwölf Verhaftungen – Zahlen, die Beobachtern der Vorfälle verdächtig gering erschienen.

Am nächsten Vormittag wurde die Technische Hochschule zum „Kriegsschauplatz“. Eine Gruppe nationalsozialistischer Studenten stürmte die Aula und fiel mit Stöcken, Stahlruten, Fäusten und Gummiknüppeln über jüdische Studenten sowie eine Gruppe von Heimwehrstudenten her. Ergebnis: vier Verletzte, einer davon schwer. Gegen zehn Uhr warf ein NS-Student eine Tränengasbombe, was zur fluchtartigen Räumung der Aula führte. Am Nachmittag ließ der Rektor eine Kundmachung anschlagen, in der er die Studenten mahnte, „besonnen“ zu bleiben, weil derartige Vorkommnisse in der Öffentlichkeit im „hochschulfeindlichen Sinne aufgebauscht“ werden könnten.

Die Untätigkeit der Polizei änderte sich erst, als auch die Angehörigen katholischer Korporationen ins Visier der Nazistudenten gerieten. An sich hatten katholische und deutschnational-völkische Studenten vieleJahre lang harmonisch in der Deutschen Studentenschaft zusammengearbeitet. Noch im Sommer 1932 war ein vonKatholiken und Nationalsozialisten gemeinsam verfasstes antisemitisches Flugblatt in Umlauf gesetzt worden. Unterzeichner als Führerder katholischen Studenten der Universität Wien: Josef Klaus, der spätere ÖVP-Bundeskanzler.

Im Dezember des Jahres kam es allerdings zum Bruch, als beim samstäglichen Bummel in den Universitätsarkaden katholische und deutschnationale Burschenschafter übereinander herfielen. Josef Klaus war wiederum mitten im Geschehen: „Zuerst war Ruhe vor dem Sturm, dann gab es Provokationen, dann den Versuch, das Niemandsland von der anderen Seite des Arkadenhofs zu durchbrechen, und schließlich eine helllichte Schlacht. Auf einmal waren auch die Braunhemden an der Seite der nationalen Couleurstudenten, geschulte Schlägertruppen mit Riemen, Stahlringen und -ruten. Auf meinen Kopf sauste eine solche Stahlrute nieder, ich blutete, ließ mich aber nicht wegführen.“ Schreibt Klaus in seinen durchaus selektiven Erinnerungen. – Soweit die Vorgeschichte.

Am 27. Mai 1933, einem Samstag, sollte in der Aula der Universität eine „Heldengedenkfeier“ katholischer Verbindungen stattfinden. Diese Feier galt groteskerweise Albert Leo Schlageter – Angehöriger einer katholischen Verbindung, aber ebenso frühes NS-Parteimitglied –, der während der Ruhrbesetzung 1923 von den Franzosen hingerichtet worden war. Trotz der angeblichen Zusage, sich ruhig zu verhalten, ließen die nationalsozialistischen Studenten sich nicht davon abhalten, die Veranstaltung massiv zu stören. Die Folge: wüste Schlägereien in der Aula und in anderen Teilen des Universitätsgebäudes. Als dann die prominentesten Ehrengäste, Bundeskanzler Dollfuß und Justizminister Schuschnigg, an der Rampe mit Pfiffen und wildem Protestgeschrei empfangen wurden, war es um die Hochschulautonomie geschehen. Die mit Stahlhelmen und Gewehren ausgerüstete Wiener Sicherheitswache räumte die Aula binnen Minuten. Und Sicherheitsminister Fey verkündete tags darauf, dass es eine „gesetzliche Hochschulautonomie“ ohnehin nie gegeben habe.

Ein knappes Jahr später, Ende April 1934, benannte das Dollfuß-Regime das Straßenstück vor der Universität nach Wiens größtem Antisemiten: Dr. Karl Lueger. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.04.2012)

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