Italien: Eine Flucht in die Ferne – oder in den Tod

(c) AP (Luca Bruno)
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Das Land leidet enorm unter den Folgen der Schuldenkrise und des Sparkurses der Regierung. Gut qualifizierte junge Leute wandern in Scharen aus – und viele Verzweifelte bringen sich um.

Das Land ihrer Träume liegt am Meer. Es ist lang gestreckt, hat mehrere tausend Kilometer Küste und hohe Berge, das Klima ist angenehm, es gibt gutes Essen und guten Wein und Kulturschätze aus allen Epochen der abendländischen Geschichte. Daniela M. kämpft mit den Tränen, wenn sie vom Land ihrer Träume spricht. Nie hätte sie sich vorstellen können, es zu verlassen, für immer vielleicht. Doch der Entschluss der 32-Jährigen steht fest. Sie verlässt Italien, denn eines gibt es im Land ihrer Träume nicht: eine Zukunft für junge Leute.

„Ich sehe keine andere Möglichkeit“, sagt die schmale Frau mit der dunklen Brille, und ihre Stimme hat wieder Festigkeit. Es ist alles vorbereitet, im Sommer wird sie nach Australien fliegen. Immerhin warten dort auch Meer und gutes Klima – und Arbeit.

Was hat sie nicht alles probiert, nachdem sie fertig studiert hatte. Sie schrieb Bewerbungen, ungezählte. „Meist kriegt man nicht einmal eine Antwort.“ Niemand wollte die junge Architektin einstellen, jedenfalls nie länger als sechs Monate. Zum Schluss nahm sie jeden Job an, beriet in einem Callcenter ungeduldige Kunden, kellnerte. Verdient hat sie kaum etwas, zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel. Und so wohnt sie bei ihren Eltern, in einer engen Wohnung nahe Rom. Denn wie soll man leben von ein paar hundert Euro in einer teuren Stadt wie Rom?

Die meisten haben keine Hoffnung mehr

M. redet nicht gern über ihre Geschichte, und doch tut es gut, unter Gleichgesinnten zu sein. Dutzende junge Leute sind zu einer Veranstaltung namens „Auswanderung 2.0“ in einer Ex-Diskothek in Rom gekommen. Sie sind gut ausgebildet – und ohne feste Arbeit. Die meisten haben auch keine Hoffnung mehr darauf. Die Finanzkrise ließ die Arbeitslosenrate auf 9,4 Prozent steigen. Am härtesten trifft sie junge Leute. Jeder Dritte unter 35 hat keinen Job, unter 25 nur jeder Zweite. Immer mehr schlagen sich mit befristeter, schlecht bezahlter Arbeit durch. Das spart den Arbeitgebern viel Geld, während die prekär Beschäftigten kaum Rechte haben.

Nicht zuletzt darum will die Regierung den Kündigungsschutz lockern. Und während sie mit den Gewerkschaften ringt, grassiert die Hoffnungslosigkeit, daran änderte auch der Regierungswechsel 2011 wenig. Nach einer kurzen Phase des Aufatmens trifft viele die Krise mit voller Wucht. Immer mehr Junge sehen nur einen Ausweg: Sie gehen weg aus Italien, vor allem die, die das Land so nötig hätte: die Hochqualifizierten, Akademiker, Ärzte, Architekten, Ingenieure. Rund 600.000 waren es im vergangenen Jahrzehnt.

Besonders stark ist der Exodus aus dem unterentwickelten Süditalien. Doch selbst im Norden treibt es immer mehr fort. „Diese jungen Leute sind nicht damit zufrieden, in der zweiten Liga zu spielen, sie wollen in die erste“, sagt Demograf Alessandro Rosina.

Dabei ist Emigration in Italien nichts Neues, es gab seit dem 19. Jh. immer Wellen von Auswanderern, speziell nach Amerika und Australien. Doch anders als zuletzt in den 1960er- und 1970er-Jahren suchen heute nicht mehr vorwiegend ungelernte Arbeiter ihr Glück in der Ferne, so auch nördlich der Alpen. „Das ist eine bisher in Italien unbekannte Form der Auswanderung“, sagt Gabriele di Mascio von der Gewerkschaft UIM. Sie berät und hilft Auslandsitalienern – und solchen, die es werden wollen. Er ist einer der „Väter“ des Treffens „Auswanderung 2.0“ und überrascht über den großen Zulauf. Weitere sollen folgen, das nächste in London, einem bevorzugten Ziel für junge Italiener, auch über Berlin denkt er nach.

Statistisch ein Selbstmord pro Tag

Doch nicht jeder hat den Mut zum Auswandern. Lucia (28), Ingenieurin ohne Arbeit, sah keinen Ausweg mehr aus der Misere. Sie stürzte sich von einem Balkon im süditalienischen Cosenza. „Sie konnte in diesem Italien nicht mehr leben, sie sah keinen anderen Weg mehr“, schrieb ihre Mutter in einem offenen Brief an die Lokalzeitung.

Solche Geschichten erschüttern die Italiener derzeit tagtäglich, jeden Tag berichten die Medien über Menschen, die sich umbringen – wegen der Krise. Manche greifen aus Protest zu drastischen Mitteln: Ein Arbeiter in Bologna zündete sich öffentlich an und starb Tage später; Ende März zündete sich ein marokkanischer Bauarbeiter vor dem Rathaus von Verona an, weil er seit vier Monaten keinen Lohn bekommen hatte. Ein Behinderter, der vergeblich die Rückerstattung von Geldern für Behandlungen beantragt hatte, wollte sich kurz vor einem Besuch von Premier Mario Monti in Neapel anzünden.

Es sind auch Pensionisten, deren Rente gekürzt wurde und die sich deshalb umbringen, wie jüngst eine Frau auf Sizilien. Und auch gestandene Unternehmer, die am Abgrund stehen, kleine und mittelständische Unternehmer, das Rückgrat der Wirtschaft: Sie leiden unter rückläufigen Aufträgen, erschwerter Kreditvergabe und schlechter Zahlungsmoral von Lieferanten und Kunden.

Von 2008 bis 2011 gingen über 40.000 Betriebe in Konkurs, und allein 2011 trieb die Krise statistisch gesehen einen Menschen pro Tag in den Tod. Der Handwerkerverband spricht gar von gut 1000 Suiziden, plus 24 Prozent seit 2008. 2012 sollen es noch mehr werden. Und wer Arbeit hat, hat Zukunftsängste. Die Reallöhne sinken, dafür steigen durch den Sparkurs der Regierung Abgaben und Steuern. Der Konsum bricht ein, Restaurants fürchten um ihre Existenz, immer mehr Läden in den Innenstädten machen zu, weil sie die Mieten nicht mehr bezahlen können. 2012 könnte das ökonomisch schwierigste Jahr für Italien seit 1945 werden.

„London is waiting for me“

„Ich kann nicht warten, dass die Reformen Montis Früchte tragen“, sagt Michele F. (30), Computerspezialist, doch selbst die tun sich heute schwer in Italien. Er wird nach London gehen. Dort lebt schon sein Bruder, ein Arzt, er hat ihm geholfen, eine recht gut bezahlte Stelle als Programmierer zu finden. „London is waiting for me“, sagt er mit hartem Akzent. Er versucht dabei zu lächeln.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.05.2012)

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