Der Timoschenko-Hype

EU-Politiker setzen ein Zeichen gegen die Regierung der Ukraine und halten bei der Fußball-EM ihre Gesichter nicht ins Fernsehen. Gut so. Doch die inhaftierte J. Timoschenko ist deshalb noch keine Heilige.

Die europäische Herde ist in Bewegung geraten. Ein Politiker nach dem anderen gibt nun bekannt, dass er aus Protest gegen Julia Timoschenkos Haftbedingungen keine Spiele der Fußballeuropameisterschaft in der Ukraine besuchen werde. Das gruppendynamische Phänomen, in der Prärie auch als „Stampede“ bekannt, ist bei allem Ernst der Angelegenheit nicht frei von absurden Aspekten.

Zuerst glänzte Holger Stahlknecht, der international bekannte Innen-, Sport- und vermutlich auch Logistikminister von Sachsen-Anhalt, mit dem chaostheoretisch inspirierten Vorschlag, die Fußballspiele sechs Wochen vor dem Anpfiff kurzerhand aus der Ukraine nach Deutschland oder Österreich zu verlegen. So direkt angesprochen, konnte auch die österreichische Staatsspitze nicht mit einer originellen Solidareinlage nachstehen. Schulter an Schulter verkündeten Kanzler und Vizekanzler den Völkern Europas, dass kein Regierungsmitglied zu einem Spiel in die Ukraine fahren werde.

Der plötzliche Einsatz für Menschenrechte ist insofern bemerkenswert, als das rot-weiß-rote Starkicker-Ensemble die Qualifikation für die EM in Polen und der Ukraine bekanntermaßen doch mehr als knapp verpasst hat. Österreich boykottiert eine Party, zu der es gar nicht eingeladen ist.

Es wäre interessant zu erfahren, in welcher öffentlichen Funktion der Kanzler und seine Minister auf Steuerkosten die Fußballtribünen zwischen Kiew und Charkow ursprünglich zu beehren gedachten. Als Schlachtenbummler benachbarter Staaten, als Händchenhalter befreundeter Premierminister, als Ko-Kommentatoren des ORF?

Abgesehen von der etwas Tschauner-artigen Inszenierung auf der österreichischen Nebenbühne geht es völlig in Ordnung, dass Europas politische Klasse ein symbolisches Signal gegen das derzeitige Herrschaftssystem der Ukraine setzt. Seit seinem Wahlsieg im Februar 2010 hat Präsident Viktor Janukowitsch tiefe autoritäre Spuren durch das Land gezogen. Er kastrierte das Parlament, veränderte die Verfassung, um seine Macht auszubauen, gängelte und unterdrückte Medien. Profitiert haben nur er, seine Familie, Günstlinge und Oligarchen.

In schamloser Weise spannte Janukowitsch die Justiz ein, um seine Gegner fertigzumachen. Im Gefängnis sitzt seit Monaten ja nicht nur Ex-Premierministerin Julia Timoschenko. Auch der ehemalige Innenminister Juri Luzenko, der frühere Umweltminister Georgi Filiptschuk und andere Topleute des „orangen“ Lagers sind hinter Gittern verschwunden.

Willkür. Die fast schon stalinistische Willkür, die sich in einzelnen Verfahren offenbart, ist inakzeptabel. Die EU verriete sich selbst, wenn sie unter solchen Umständen ein Assoziierungsabkommen mit der Ukraine schlösse. Zu Recht setzen sich Deutschland und andere EU-Staaten dafür ein, Timoschenko eine medizinische Behandlung zu ermöglichen, der sie vertrauen kann.

Ärgerlich bei dem Hype, der nun im medialen Aufmerksamkeitsfeld vor der Fußball-EM erzeugt wird, ist jedoch die völlig unkritische Stilisierung von Julia Timoschenko zu einer unbescholtenen Lichtgestalt. Die Dame mit dem blonden Bauernhaarkranz hat auch ihre weniger hellen Seiten. Ihren Reichtum bezog die „Gasprinzessin“ in den 1990er-Jahren aus Quellen, die zumindest dubios zu nennen sind, als Vertraute von Ex-Premier Pavlo Lazarenko, der den ukrainischen Staat um rund 200 Millionen erleichtert haben soll und wegen Geldwäsche in den USA inhaftiert ist. Und als Politikerin hat zweifellos auch sie ihren streitsüchtigen und egomanischen Beitrag geleistet, um die „Orange Revolution“ in den Jahren nach 2005 zu verspielen.

Ob sie ein geringeres Übel als der als Wahlbetrüger und Dieb verurteilte Viktor Janukowitsch wäre? Ganz sicher. Doch eine Heilige ist Timoschenko nicht, auch wenn sie westliche Medien und Politiker noch so geschickt mit ihrer Legende versorgt.

christian.ultsch@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.05.2012)

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