2013 könnte die Wirtschaft des hoch verschuldeten Mittelmeerstaats nach fast sechs Jahren endlich aufhören, weiter zu schrumpfen. Der Export zieht schon 2012 wieder leicht an – vor allem dank der harten Reformen.
Brüssel. Kann man über ein Land, in dem jeder Fünfte arbeitslos ist, die Wirtschaft zweimal hintereinander um mehr als vier Prozent geschrumpft ist und die Leistungsbilanz seit Jahren zweistellig in den roten Zahlen ist, etwas ökonomisch Erbauliches berichten? Ja – wenngleich die volkswirtschaftliche Lage Griechenlands weiterhin sehr besorgniserregend ist. Die EU-Kommission hält in ihrer Frühjahrsprognose zunächst das Unerfreuliche fest: 2011 schrumpfte die Wirtschaft um 6,9 Prozent, dieses Jahr wird die Rezession voraussichtlich 4,7 Prozent betragen. Die Arbeitslosigkeit beträgt laut Eurostat 19,7 Prozent, laut dem griechischen Statistikamt lag sie allerdings im Februar schon bei 21,7 Prozent. Besonders hart trifft es die griechische Jugend: 53,8 Prozent der 15- bis 24-Jährigen sind derzeit ohne Stelle.
Und auch wer noch einen Job hat, spürt die Krise beinhart: Die Löhne und Gehälter sinken 2012 im Durchschnitt um voraussichtlich acht Prozent. Schon in den beiden vergangenen Jahren waren sie um jeweils mehr als drei Prozent gesunken. Doch noch immer konsumiert die Volkswirtschaft auf Pump: Das Leistungsbilanzdefizit soll heuer 7,8 Prozent betragen. Immerhin ist es zum ersten Mal nicht mehr zweistellig.
Doch zwischen all den betrüblichen Ziffern finden sich auch Indikatoren, die Anlass zu vorsichtiger Hoffnung geben. Im kommenden Jahr könnte Griechenland nach derzeitigem Stand der Dinge die Talsohle erreicht haben. Die Kommission erwartet ein „Nullwachstum“. Aber das ist eben auch eine „Nullschrumpfung“. Und das ist nach fast sechs Jahren Rezession immerhin etwas. Zudem sorgt die Kürzung der griechischen Löhne und Gehälter dafür, dass die Wettbewerbsfähigkeit der Waren und Dienstleistungen im internationalen Vergleich steigt. Die Lohnstückkosten dürften 2012 um 7,4 Prozent fallen. Obwohl die Krise schon seit einigen Jahren dauert, sinkt dieser wichtige Indikator erst seit 2009. Noch im Krisenjahr 2008 stiegen die griechischen Durchschnittslöhne um 5,4 Prozent.
Sinkende Lohnstückkosten könnten nun den Export beflügeln, stellt die Kommission in Aussicht. Allerdings nur dann, „wenn die griechischen Exporteure aus den Arbeitsmarkt- und Branchenreformen Nutzen ziehen können durch gesteigerte Produktivität und niedrigere Herstellungskosten“, wie die Kommission warnend hinzufügt. Seit 2010 steigen die Exporte wieder, was zu einem Gutteil darauf zurückzuführen ist, dass Griechenland als Reiseziel angesichts der arabischen Revolutionen wieder relativ attraktiv wurde (Tourismus zählt zur Außenwirtschaft).
Doch wo könnten neue Arbeitsplätze entstehen? Griechenland war nie besonders stark industrialisiert. Im vergangenen Jahrzehnt gingen Exportmärkte verloren, weil die Arbeitskosten zu stark stiegen. Ein europäischer Funktionär erwähnte im Gespräch mit der „Presse“ die Zementindustrie als mahnendes Beispiel für diese Entwicklung. Sie verlor sogar auf ihren traditionellen Märkten in den Balkanländern Anteile, weil sie im Preiswettbewerb nicht mithalten konnte.
Der griechische Außenwirtschaftsverband Seve kommt laut einem Bericht der Zeitung „Ekathimerini“ zum Ergebnis, dass Griechenland gegenüber seinen Hauptkonkurrenten Spanien, Portugal, Italien und der Türkei in zwölf Kategorien einen Wettbewerbsvorteil hätte. Das wären in erster Linie Kupfer, Aluminium, Milchprodukte, Salz, Olivenöl, Fisch, Obst und Gemüse sowie Leder- und Pelzwaren. Diese Liste zeigt aber auch die größte Herausforderung, vor der die künftige Athener Regierung stehen wird: Eine im Grunde genommen noch immer stark ausgeprägte Agrargesellschaft ist in eine moderne, vielschichtige Volkswirtschaft zu verwandeln.
Auf einen Blick
Griechenlands Wirtschaft ist weiterhin in der Rezession. Sie wird heuer um voraussichtlich 4,7 Prozent schrumpfen. Doch zumindest gibt es eine zarte Aussicht auf Besserung: 2013 dürfte die Rezession enden. Die Exportwirtschaft profitiert von den sinkenden Lohnstückkosten. Allerdings leidet das Land an seiner überalterten Wirtschaftsstruktur. Die neue Regierung steht vor der Herausforderung, das Land in eine moderne, vielschichtige Volkswirtschaft zu verwandeln.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.05.2012)