Wie passt das Ich ins Bild?

Geht aufs Ganze: Thomas Stangls Essays übers Schreiben. Thomas Stangl mag nicht daran glauben, mit seinen Geschichten anderen „etwas beibringen“ zu können, wie Handke diesen „Wahn“ des Schriftstellers definierte.

Peter Handke sprach in einem Interview mit André Müller 1971 davon, dass die Anmaßung zur Natur des Schriftstellers gehöre. Thomas Stangl mag nicht daran glauben, mit seinen Geschichten anderen „etwas beibringen“ zu können, wie Handke diesen „Wahn“ des Schriftstellers definierte. Seine Anmaßung besteht darin, in seinemSchreiben aufs Ganze, aufs Ganze seiner Schriftstellerexistenz zu gehen.

Man könnte einwenden, dass das gute Literatur immer mache. Aber in Zeiten, in denen Literaturkritik und Markt immer weniger Lust auf „anspruchsvolle“ Literatur haben sowie gerne von „schwerer Kost“ geschrieben und das Bedürfnis nach Schonkost ausgiebig bedient wird, ist dieser „Wahn“, der sich mit großer Sprachkraft zu äußern vermag, umso bedeutender. Stangls Essays wären in dieser digestiven Kategorisierung vielleicht sogar als „leichter“ als seine preisgekrönten Romane einzustufen.

Stangls „Anmaßung“ zeigt sich gleich im ersten Satz dieser Sammlung: „Lange Zeit habe ich mich bemüht, nur schriftlichzu existieren.“ In seinen Lektüren sucht Stangl nach Autoren, die „nur noch Stimme“ sind (und wird etwa bei Kafka fündig), sein Körper soll zum Schriftkörper, jede Bewegung zur Schreibbewegung werden. Es gibt, so postuliert der eröffnende Text „Abwesenheiten“, eine „wirkliche Welt“ außerhalb der Schriftwelt.

Ist alles Gesprochene gelogen?

Der Schreibende hält sich „am Rand des Bildes“ auf, ihm wird von dort aus das Schreibende zur Wahrheit: „Immer noch glaube ich heimlich, dass alles, was ich sage (alles, was irgendjemand sagt?) gelogen ist; immer noch glaube ich heimlich, dass alles, was ich schreibe (alles, was irgendjemand geschrieben hat?) wahr ist.“ So wird ihm etwa Cormac McCarthys Roman „Verlorene“ zum Reisebericht: „Ich kenne die Alkoholiker und Obdachlosen von McAnally besser als die Alkoholiker und Obdachlosen vom Bahnhof Praterstern, fünf Gehminuten von meiner Wohnung entfernt: Spricht das für oder gegen die Literatur, oder die Wirklichkeit, oder auch bloß mich selbst?“

Die Essays aus einem Zeitraum von 17 Jahren (1994–2011) zeigen einen Autor, der sein Schreiben und seine Wahrnehmung auf das Körperliche der Schrift, auf den Text-Körper ausrichtet. Wie in seinem Roman „Der einzige Ort“ wird dem Autor auch in den Essays alles zum Körper, die Stadt zum „organischen System“. Aber auch das Körperliche ist keine feste Größe in Stangls Schreiben, hier schwankt alles, alles kann zur Illusion werden. Neben den (Schreib-)Körpern stellen die Texte Reisen und Bildbeschreibungen in den Mittelpunkt, wobei bei Stangl eins ins andere übergeht. Ihn interessiert, wie das Beobachtete, „die Welt“, zur Erfahrung, zu Sprache werden kann, und er fragt stets, wie das Ich ins Bild passt. In seinen Land- und Bildvermessungen richtet er den Blick vornehmlich neben und hinter die Bilder – was im Übrigen auch für seine Auslassungen zu politischen Themen gilt.

Verlag und Autor taten gut daran, auf den Umschlag keine Genrebezeichnung zu schreiben. Denn in der zusammenschauenden Lektüre entsteht ohnehin der Eindruck des Fortschreibens an einem Text. So soll es sein: eine Anmaßung. ■




Thomas Stangl
Reisen und Gespenster

Essays, Reden und Erzählungen. 240 S., geb., €22 (Droschl Verlag, Graz)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.05.2012)

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