Ex-EZB-Chef Trichet ist jetzt Pensionist – und oha: spricht nun offen über Staatspleiten.
Erinnern Sie sich noch an Jean-Claude Trichet? Richtig: Das war jener Mann, der die Europäische Zentralbank bis November lenkte. Streng, aber gerecht.
Beim Thema Griechenland war er vor allem streng: „Ein Kreditereignis oder begrenzter Zahlungsausfall – wir sagen Nein. Punkt.“ Dieses Trichet-Zitat ging im Juli 2011 in die Geschichtsbücher ein.
Jetzt, nicht einmal ein Jahr später, spricht Trichet wieder. Bei einem Vortrag in Washington meinte er, die EU-Staaten sollten im Extremfall ein Land für bankrott erklären und seine Budgetpolitik übernehmen.
Das ist hoch interessant. Weniger aus inhaltlichen Gründen. Vielmehr wegen psychologischer Aspekte: Bei allem Verständnis für den Pensionsschock, unter dem Herr Trichet zweifellos leidet – wieso stehen seine Aussagen als Privatmann diametral im Gegensatz zu jenen als EZB-Präsident? Ein Fall von wundersamer Läuterung?
Man braucht kein großer Psychologe zu sein, um des Rätsels Lösung zu finden: Damals stand Trichet im Sold der EZB, heute nicht. Damals durfte er das böse B-Wort nicht in den Mund nehmen, heute schon.
Im vergangenen Jahr haben Bundesbank-Chef Axel Weber und EZB-Direktor Jürgen Stark den Hut genommen, weil sie die eigentümliche EZB-Politik nicht mittragen wollten. Jean-Claude Trichet hat das Drama ausgesessen. Das zu interpretieren, überlassen wir lieber doch den großen Psychologen.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.05.2012)