Von der Reproduktion zur Reflexion

Reproduktion Reflexion
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Gastkommentar. Die Kompetenzorientierung im Unterricht löst in Österreich wie in Deutschland große Skepsis aus. Der Kritik kann man aus verschiedenen Perspektiven begegnen.

Auf bildungspolitischer Ebene lässt sich Kompetenzorientierung als Innovationsschub verstehen. Auch die Fächer, die im Fächerkanon eine eher untergeordnete Rolle spielen – dazu gehören in Deutschland Ethik und Philosophie –, können und konnten sich der Diskussion um Kompetenzmodelle und Bildungsstandards nicht entziehen. Es muss in der Fachöffentlichkeit und darüber hinaus geklärt werden: Welche allgemeinen Bildungsziele von Schule und Unterricht werden gerade in diesem Fach in spezifischer Weise initiiert?

In Deutschland hat diese Diskussion zu einer Stärkung des Faches Philosophie geführt. Auch das Fach Ethik hat von der Diskussion profitiert: Angesichts der in den Medien und der Bildungspolitik engagiert geführten Wertediskussion und der Frage, wie Migranten in unsere Gesellschaft integriert werden können, kann sicherlich gerade das Fach Ethik einen elementaren bildungspolitischen Beitrag zu diesen Herausforderungen der Schule leisten. In Deutschland hat man erkannt, dass Ethiklehrer eine große Verantwortung besitzen und daher eine fundierte Ausbildung erforderlich ist.

Vom Morbus hermeneuticus

Damit lässt sich ein weiterer schwerwiegender Kritikpunkt aber noch nicht entkräften, der lautet, Kompetenzorientierung sei inhaltsleer. Basis der Formulierung von Kompetenzen und Bildungsstandards ist ein Grundverständnis des Faches. Schon 1981 diagnostizierte Herbert Schnädelbach an den Unis die philosophische Erkrankung des Morbus hermeneuticus.

Statt Philosophie als Literaturwissenschaft fordert er das Selbstdenken mit Texten als Dialogpartner. In diesem Prozess können philosophische Texte zwei verschiedene Funktionen übernehmen: Als Helfer unterstützen sie bei der Klärung schon erkannter Probleme, haben vorgedacht und fordern den Philosophierenden auf, Resultate zu überprüfen und eigenständig zu übernehmen. Als Förderer eröffnen sie neue Problemhorizonte und regen an, den Denkhorizont um bisher nicht gesehene Problemstellungen zu erweitern.

Es geht nicht ohne Wissen

Es geht also nicht ohne Wissen, es geht nicht ohne Inhalte. Das Wissen um die philosophischen Klassiker muss sich aber mit ihrer Anwendung auf aktuelle Problemstellungen verbinden. Das Üben von Reflexion und Argumentation, von Begriffsklärung und kritischem Urteil erlaubt die Übertragung auf neue Zusammenhänge, wie es auch in den österreichischen Vorgaben zur Reifeprüfung formuliert ist: Aufgaben müssen den Dreischritt von Reproduktion, Transfer und Reflexion umfassen.

Wenn man akzeptiert, dass Kompetenzen das Fach stärken, und erkennt, dass damit nicht ein Verlust an Anspruch einhergehen muss, stellt sich die Frage, welche fachspezifischen Kompetenzen im Unterricht vermittelt werden. Kompetenzorientierung bedeutet einen Perspektivenwechsel weg von einer Orientierung auf reinen Wissenserwerb hin zu einer intelligenten Anwendung von Wissen.

Die Wissensgesellschaft befindet sich in permanentem Wandel. Vorhandenes Wissen wird ergänzt, modifiziert, durch neue Erkenntnisse abgelöst. Daraus erwachsen Anforderungen an die Bildung innerhalb und außerhalb der Schule.

Informationen können nicht länger angesammelt und archiviert werden, sondern sie müssen bewertet, vernetzt und variabel anwendbar sein. Der Ethik- und Philosophieunterricht, der Wahrnehmen, Reflektieren und Analysieren sowie Argumentieren in den Mittelpunkt stellt, vermittelt elementare inhaltliche und methodische Kenntnisse zum Erwerb, zur Überprüfung und zur Bewertung von Informationen.

Bleibt zum Schluss die Frage, wie ein so legitimierter Unterricht mit diesen Zielsetzungen nun konkret aussehen kann. Lernende verhalten sich im Unterricht oft rezeptiv und orientieren sich vor allem an durch Prüfungen gestellten Anforderungen. Die Verantwortung für den persönlichen Lernprozess wird vor allem an die Lehrenden übertragen.

Verantwortung beim Individuum

Fasst man Orientierungs- und Handlungskompetenz als leitendes Ziel des Unterrichts in den Fächern Ethik und Philosophie auf und versteht man unter Handlungskompetenz vor allem die Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme, dann sollte diese Verantwortung beim Individuum ansetzen. Unterricht muss so konzipiert werden, dass er Selbstverantwortung bei den Lernenden initiiert. Sogenannte Lernaufgaben sind ein probates Mittel. Ihre Bewältigung erfordert Wissen und Können gleichermaßen.

Kompetenzorientierung muss also nicht zur Verflachung und Niveaulosigkeit des Unterrichts führen. Sie ist vielmehr ein hoher Anspruch an Lehrende und Lernende gleichermaßen.

Veranstaltungsreihe

Dr. Anita Rösch, Dozentin an der Justus-Liebig-Uni Gießen und Fachleiterin am Studienseminar Oberursel, sprach vergangene Woche bei der von Nora Ableitinger und Konrad Paul Liessmann veranstalteten Vortragsreihe „Fachdidaktik kontrovers“ an der Universität Wien zum Thema „Kompetenzorientierung im Philosophie- und Ethikunterricht“. Der vorliegende Gastkommentar wurde von der Autorin auf Basis ihres Redemanuskripts erstellt. Zuletzt erschien von Anita Rösch das Buch „Kompetenzorientierung im Philosophie- und Ethikunterricht. Entwicklung eines Kompetenzmodells für die Fächergruppe Philosophie, Praktische Philosophie, Ethik, Werte und Normen, LER“ (LIT-Verlag, 344 Seiten, 24,90 Euro).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.05.2012)

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