"Zirkusfrauen": Babydoll im Löwenkäfig

Zirkusfrauen Babydoll Loewenkaefig
Zirkusfrauen Babydoll Loewenkaefig(c) EPA (IMRE FOELDI)
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Zu einer Zeit, in der andere Frauen nur mit Hut und nie allein auf die Straße gingen, nahmen es die "Zirkusfrauen" leicht bekleidet mit Löwen auf und warfen Männer durch die Luft.

Wenn Tilly Bebé die Manege betrat, steigerte sich das aufgeregte Flüstern im Zuschauerraum zu einem angespannten Raunen. Man hörte „Oh“, man hörte „Ah“, als das kleine Mädchen in seinem Spitzenkleid, die Haare adrett in Locken gelegt, sich verbeugte, voller Anmut und Demut. Und scheinbar völlig unbeeindruckt davon, dass es allein in einem Käfig voller Löwen stand.

Man schrieb das Jahr 1905. Es war eine Zeit, in der die meisten Frauen nie ohne Hut und nie allein aus dem Haus gingen; eine Zeit, in der die Emanzipation noch in Schnürstiefelchen dahertrippelte. Eine Gruppe von Frauen aber hatte eine Nische für sich entdeckt, in der sie alternative Lebensentwürfe realisieren konnten. Diese Frauen fingen Kanonenkugeln auf, warfen Männer durch die Luft und nahmen es mehr oder weniger leicht bekleidet mit Raubtieren auf. Sie waren die „Zirkusfrauen“, die für die damalige Zeit sehr eigenwillige Vorstellungen vom Leben hatten. Im Zirkus, dieser Welt außerhalb der bürgerlichen Norm, fanden sie die Bühne dafür. Gesellschaftspolitische Ambitionen hatten die „Zirkusfrauen“ keine. Dennoch wurden ihre Lebenskonzepte zu Vorbildern für die Frauenbewegung.

Tilly Bebé war eine dieser mutigen Frauen. Geboren als Mathilde Rupp, Tochter eines Obst- und Blumenhändlers in Perchtoldsdorf, schlug sie zuerst den Weg ein, der für junge Frauen ihres Standes angemessen war. Tilly wurde Schreibkraft in einer Rechtsanwaltskanzlei. Bald aber bog sie vom vorgezeichneten Weg ab und folgte ihrer Tierliebe ins Vivarium des Wiener Praters, wo sie sich um die Schlangen kümmerte. Ihre Lehre als Raubtierdompteuse absolvierte Tilly bei der berühmten Comtesse X im Bonner Tierpark. Dort bekam sie auch ihren Künstlernamen: Aus Mathilde Rupp wurde Tilly Bebé.

Dieses Pseudonym kam nicht von ungefähr. Denn Tilly war, wie die meisten „Zirkusfrauen“, eine Meisterin der Selbstinszenierung. In ihrem Fall war dies ein Spiel mit dem Kontrast zwischen ihrer mädchenhaften Erscheinung, die sie durch Rüschenkleidchen unterstrich, und der Beherrschung gefährlicher Raubtiere. Das Publikum liebte sie als den „Backfisch im Löwenkäfig“. In ihrer Blütezeit erreichte Tilly Bebé einen ähnlichen Bekanntheitsgrad wie berühmte Schauspielerinnen – und für den verlangte sie sich auch einiges ab. Sie steckte ihren ondulierten Kopf in den Rachen eines Löwen. Am Schluss ihrer Nummer trug das zarte Wesen ein Tier auf den Schultern aus der Manege. Ihr Frauenschicksal holte Tilly Bebé erst im Alter ein. Sie starb 1932 – einsam und total verarmt.

Den Körper zeigen, nicht verkaufen. So lange sie arbeiten konnte, genoss Tilly Bebé allerdings die Annehmlichkeiten, die ein Frauenleben im Zirkus bieten konnte. Sie konnte selbstständig leben und arbeiten, gut verdienen und um die Welt reisen. Viele Künstlerinnen verzichteten darauf, zu heiraten, oder entschieden sich für gleichgeschlechtliche Beziehungen. Zwar herrschten auch im Zirkus strenge soziale Gesetze. Nachdem sich diese Welt selbst aber außerhalb der bürgerlichen Normen bewegte, brachte sie den Frauen viele zusätzliche Freiheiten. Und zwar ohne sich dafür prostituieren zu müssen. „Die ,Zirkusfrauen‘ zeigten ihren Körper zwar her, aber sie verkauften ihn nicht“, sagt Brigitte Felderer, die für das Frauenmuseum Hittisau in Vorarlberg eine Ausstellung über die tollkühnen Frauen kuratierte. „Es war kein halbseidenes Gewerbe. Die ,Zirkusfrauen‘ waren in Wahrheit unglaublich selbstbewusst, selbstständig und modern.“

Sandwina, die Muskelfrau. Die bekanntesten „Zirkusfrauen“ waren außerdem Meisterinnen im Spiel mit dem Publikum, mit seinen Erwartungen, Lüsten und Gelüsten. Sehr oft war es vor allem der Kontrast zwischen dem gesellschaftlichen Bild der Frau und Eigenschaften, die eher dem Mann zugeschrieben wurden wie Mut oder Stärke, der den besonderen Reiz ihrer Nummern ausmachte.

Letzteres brachte Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts eine ganz eigene Gruppe von Artistinnen hervor: die „Muskelfrauen“. Diese sind aus der heutigen Zirkuswelt praktisch verschwunden, in der Frauen wieder eher traditionelle Rollen spielen, sei es als anmutige Akrobatinnen, federleichte Trapezkünstlerinnen oder geschickte Jongleurinnen. Die „Muskelfrauen“ hingegen waren mehr als ganze Kerle. Katharina Brumbach aus Wien nahm als Sandwina locker drei Männer gleichzeitig auf den Arm. Ihren Ehemann Max lernte sie kennen, als sie ihn mit einem einzigen Schwung zu Boden schleuderte – Liebe auf den ersten Wurf sozusagen. Diese Rollenverteilung behielt das Paar bei. Auch später in den USA, wo sie im Ringling Brothers Barnum and Bailey Circus auftraten, blieb es Sandwinas Markenzeichen, Max mit einer Hand über den Kopf zu stemmen.

Katharina Brumbach schlug Kapital aus ihren 1,84 Metern Größe und 90 Kilo Körpergewicht. Doch auch mit Behinderungen geborenen Frauen bot der Zirkus eine Alternative zum Armenhaus – wenn auch eine nicht unproblematische, rückte es sie doch oft in die Nähe von Freak-Shows. Diese Zwiespältigkeit prägte das Leben von Antonia Matt-Günther, die 1878 in Ludesch in Vorarlberg ohne Beine geboren wurde. Dort wurde sie entdeckt und an einen Schausteller vermittelt. Natürlich bedeutete ihr Leben im Zirkus für Antonia Matt, dass sie als „Monster“ ausgestellt und bestaunt wurde. Gleichzeitig aber eröffnete ihr der Zirkus eine Welt, die ihr im „normalen Leben“ wahrscheinlich verschlossen geblieben wäre. Matt heiratete zweimal, verdiente ganz beachtliche Summen und konnte ein einigermaßen selbstständiges Leben führen.

Selten, aber doch: Frau Prinzipalin. Selten, aber doch schafften Frauen es sogar an die Spitze der Fahnenstange – allerdings meistens erst dann, wenn ihre Ehemänner das Zeitliche gesegnet hatten. In dieser Position nahmen sie dann bereits eine Doppel- und Dreifachbelastung vorweg, die ihren heutigen berufstätigen Geschlechtsgenossinnen nicht ganz unbekannt sein dürfte. Die Prinzipalin war für das reibungslose wirtschaftliche Funktionieren des Unternehmens verantwortlich, hatte vielleicht auch noch eine eigene Nummer zu absolvieren und fühlte sich oft gleichzeitig für das körperliche und seelische Wohlbefinden ihrer Untergebenen zuständig.

So viele Möglichkeiten sie Frauen auch bot, vollkommen heil war die Zirkuswelt nicht. Viele Artistinnen kamen über prekäre, ausbeuterische Arbeitsverhältnisse nicht hinaus; viele verarmten, weil sie sich verletzten oder weil sie zu alt für Kunststücke wurden. Aber auch hier herrschte eine Art Gleichberechtigung – erging es doch „Zirkusmännern“ nicht viel anders.

"Die tollkühnen Frauen" im Frauenmuseum Hittisau im Bregenzerwald (Vorarlberg) zeichnet die Lebensgeschichten von Raubtierdompteusen, Muskelfrauen, Gladiatorinnen und anderen Artistinnen nach (zu sehen bis 13.Jänner 2013).

Kuratiert wurde die Ausstellung von Brigitte Felderer in Zusammenarbeit mit Stefania Pitscheider Soraperra. Gestaltet hat sie die Malerin und Bildhauerin Raja Schwahn-Reichmann.
www.frauenmuseum.at

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.05.2012)

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