Italien: Beben war bis Österreich zu spüren

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Nur neun Tage nach der ersten Katastrophe hat ein weiteres schweres Beben die Po-Ebene heimgesucht. In dichter Folge kam es zu Erdstößen, den ganzen Tag lang. Es gab mindestens 17 Todesopfer.

Rom. „Wir haben die Ärmel hochgekrempelt nach dem Beben vor neun Tagen. Es war so ein starker Wille da, bei allen von uns, gleich wieder loszulegen, uns wieder ins Spiel zu bringen.“ Alberto Silvestri, der Bürgermeister von San Felice, trägt eine dunkle Sonnenbrille. Nur wegen der Sonne? Oder damit man seine geschwollenen Augen nicht sieht?

San Felice sul Panaro hat nämlich an diesem Dienstagmorgen schon wieder gebebt. Fast genauso stark wie beim ersten Mal. Und zu den Toten gehören ausgerechnet jene, die ein Fabrikgebäude auf seine Stabilität und seine möglichst schnelle Wiederverwendbarkeit untersuchen sollten: Just während dieser Prüfung stürzte das Gebäude zusammen. Es begrub einen Ingenieur und zwei Arbeiter unter sich.

Dienstagabend zählte man 17 Tote, allerdings im Wissen, dass noch etliche Personen verschüttet waren. Eine Frau konnte in den Abendstunden noch lebend aus den Trümmern geborgen werden.

Um neun Uhr morgens hatte der Boden zwischen Modena und Ferrara wieder angefangen zu beben. Doch es blieb nicht bei dem einen Stoß: In dichter Folge ging es mit Erdstößen weiter, den ganzen Tag lang, häufig genug mit Stärken von mehr als fünf auf der Richterskala. Die Beben waren diesmal in ganz Norditalien zu spüren und sogar bis hinauf nach Österreich: Noch in Mailand stürmten die Leute vor Angst auf die Straßen. Und vor Ort war die Zerstörungskraft offenbar noch größer als beim ersten Mal.

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Pfarrer starb bei Rettung von Marienstatue

Den mittelalterlichen Uhrturm in Finale Emilia, dessen mittendurch gebrochenes Zifferblatt geradezu als Symbol für das erste Beben gegolten hat, den gibt es seit diesem Dienstag gar nicht mehr. In der Stadt Mirandola ist der Dom eingestürzt, in einer schon beschädigten anderen Kirche starb der Pfarrer, als er – begleitet von einem Feuerwehrmann – eine Marienstatue retten wollte.

Aber nicht nur angeknackste Bauten haben nunmehr den letzten, vernichtenden Stoß abbekommen. Auch mindestens vier Angestellte in Europas größtem und modernstem Industriedistrikt für Biomedizin in der Umgebung von Mirandola wurden von den Trümmern ihres Fabrikgebäudes erschlagen.

Gut 5000 Arbeiter hatten nach dem ersten Beben ihre Beschäftigung verloren. Und viele, die seither wieder angefangen hatten, ihre Werkstätten in Schuss zu bringen, standen gestern trauernd, weinend und einander umarmend vor ihren Fabriksgebäuden. Eigentlich, sagten die Arbeiter – unter ihnen viele Nordafrikaner – hätten sie den Gebäuden gar nicht mehr getraut: „Aber der Chef hat uns gebeten zu kommen, und viele von uns haben nur einen befristeten Vertrag. Wären wir daheim geblieben, hätten wir den Job sofort verloren.“

Zone galt nicht als gefährdet

Mit mindestens 6000 neuen Obdachlosen rechnete Italiens Katastrophenschutz am Dienstag – vorläufig wenigstens. Zu den knapp fünftausend Personen, die nach dem ersten Beben nicht mehr in ihre Häuser zurückkonnten und seither in Zeltstädten oder Turnhallen leben, sind bereits im Verlauf der vergangenen neun Tage weitere zweitausend dazugekommen: Die Erde hörte nicht auf zu beben, die Angst wuchs.

Und es kam zu Phänomenen, die von den Leuten als gespenstisch empfunden wurden: Aus Rissen im Boden quollen massenweise Sand und Schlamm, mancherorts mit der Kraft von Geysiren. Sie hinterließen Häuser und Landschaften, die aussahen wie nach einer Überschwemmung. Geologen erklären das so: Die Dörfer in der südöstlichen Po-Ebene liegen auf altem Flussschwemmland. Der wassergesättigte Kies- und Sandboden verstärkt die Erdbebenwellen. Die Verschiebungen im Boden drücken Wasser und Sand nach oben – doch im Untergrund bleiben die Hohlräume. Daher könnten Häuser, die jetzt noch intakt scheinen, nach und nach ins Rutschen geraten und versinken.

Im Gegensatz zu anderen Erdbeben, die sich auf einen großen Knall und ein paar kleinere Nachbeben beschränken, wird die Katastrophe in der Region Emilia laut Experten eine schleichende, unüberschaubare Langzeitwirkung entfalten. Manche Dörfer lassen sich wohl gar nicht mehr sicher bewohnen. Das Beben an diesem Dienstag scheint kein „Nachbeben“ gewesen zu sein, sondern ein eigenständiges, neues. Das beunruhigt besonders – gerade in einer Zone, die eigentlich als gar nicht erdbebengefährdet gilt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.05.2012)

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