Im Bett mit dem Teufel

Eine Haitianerin aus der Oberschicht erhält Audienz beim Staatssekretär, um Gnade für ihren dissidenten Mann zu erwirken. Was sich in Kettly Mars' Roman „Wilde Zeiten“ danach entspinnt, ist eine beklemmende Geschichte voller Gewalt und ambivalenter Gefühle.

Am 12. Jänner 2010 bebte in Haiti die Erde, und binnen einer Minute waren weite Teile der Hauptstadt in einen riesigen Schutthaufen verwandelt, der heute noch längst nicht weggeräumt ist. Über diese Minute, die Tod verheißende Stille, die auf sie folgte, und die Einsamkeit einer Nation, die seit ihrer Selbstbefreiung aus der Herrschaft französischer Sklavenhalter nicht zu sich und zum Frieden findet, hat die haitianische Autorin Yanick Lahens einen bewegenden Bericht verfasst. In „Und plötzlich tut sich der Boden auf“, voriges Jahr im Rotpunkt Verlag erschienen, fragt sie, warum es ausgerechnet wieder Haiti sein musste, das von einer Katastrophe heimgesucht wurde. Denn als Kette von Katastrophen erleben die Haitianer ihre Geschichte selbst.

Von Haiti, seinem ökologischen, sozialen, politischen Desaster erfahren wir alle Tage in den Weltnachrichten. Wir sind wohl informiert und wissen doch fast gar nichts. Schier unbegreiflich, wie das Land vor mehr als einem halben Jahrhundert in den privaten Besitz eines bizarren Landarztes gelangen konnte, dessen paramilitärische Foltergarde der „Tonton Macoutes“, zu deren Uniform die Sonnenbrille gehörte, die Bevölkerung drangsalierte und unter die Kuratel einer aberwitzigen Bespitzelung stellte. Kaum zu verstehen, dass sich die Gesellschaft auch nach dem ersehnten Sturz von Baby Doc Duvalier, dem Sohn des Despoten, nicht und nicht aus der Unterdrückung zu befreien vermochte und weiterhin unter dem Regiment von Korruption und Gesetzlosigkeit verharrte. Es ist, als läge ein Fluch über dem Land, das, gleich ob es von einem sozialistischen Armenpriester oder einem Günstling des internationalen Währungsfonds regiert wird, aus der Misere nicht herausfindet.

Von dieser erzählen etliche Bücher aus Haiti, die in den letzten Jahren ins Deutsche übersetzt wurden. Da ist etwa der originell komponierte Roman „Der verlorene Vater“ von Edwige Danticat, in dem exemplarisch vorgeführt wird, wie ein despotisches Regime Abertausende seiner Opfer zu Tätern macht; oder Emmelie Prophètes „Testament der Einsamen“, die unsagbar traurige Geschichte dreier Schwestern, zu deren Leid gehört, dass sie gar nicht mehr auf die Idee kämen, auch sie hätten Anspruch auf Glück im Leben; oder die Miniaturen Georges Anglades, des wohl bekanntesten Autors des Landes, der trotz alledem „Das Lachen Haitis“ beschwört, in kurzen, aberwitzig komischen Geschichten, die demElend das große Gelächter, der Unterdrückung den trotzigen Witz entgegenhalten. Verstörend von der ersten bis zur letzten Seite ist hingegen der Roman „Wilde Zeiten“, in dem die 1958 geborene Kettly Mars von Liebe, Verrat, Unglück in Zeiten der Barbarei erzählt.

Haiti, Anfang der Sechzigerjahre, als Papa Doc Duvalier sich daranmacht, seine Präsidentschaft zur Alleinherrschaft auszubauen. Eine schöne Frau aus der alten Oberschicht steht Schlange, um beim neuen Staatssekretär eine Audienz zu erhalten. Sie ist Mulattin und gehört damit zu jenen fünf Prozent der Bevölkerung, die seit 150 Jahren über die Geschicke des Landes bestimmen; er ist schwarz, kommt aus der Unterschicht und hat sich als Schläger für Papa Doc so bewährt, dass er in die Nomenklatura um den Herrscher aufgestiegen ist, der allerdings nicht nur dem Volk, sondern auch seinem Hofstaat misstraut und regelmäßige Säuberungen vornimmt, denen stets seine Getreuen von gestern zum Opfer fallen.

Frau Nirvah Leroy muss zum Staatssekretär vordringen, um bei ihm Gnade für ihren Mann zu erwirken, der, einst Chefredakteur der wichtigsten Zeitung des Landes und eine der bekanntesten Persönlichkeiten der Opposition, seit zwei Monaten in einem der neuen Spezialgefängnisse verschwunden ist.

Der Staatssekretär empfängt sie tatsächlich, doch vom ersten Augenblick liegt ein explosives Gemisch aus Begehren, Gewalt, Demütigung und Rache in der Luft: Das ist sie, die hellhäutige Frau aus der Oberschicht mit ihren grazilen Bewegungen, der vornehmen Sprache, dem Selbstbewusstsein, das sie ihrer Herkunft und Bildung verdankt; eine Frau, gerade so, wie er, aus dem unvermittelt eine „Exzellenz“ geworden ist, sie mit dem Hass des kleinen Mannes schon immer begehrt hat. Dieses Begehren bestimmt jedes Wort, das sie miteinander sprechen, und es ist in ihm ebenso viel erotische Bewunderung wie politische Gewalt, sexuelle Gier wie soziale Vergeltung.

Er verehrt und hasst diese Frau, also will er sie in seinen Besitz bringen, aber nicht auf die einfache Weise, mit der die Tontons Macoutes und Leute wie er es halten, seitdem sie die Macht im Staate übernommen haben. Er will sie nicht nur vergewaltigen, sondern tatsächlich von ihr geliebt werden. „Dabei hielt er sich für einen ertüchtigten Kämpfer auf dem Schlachtfeld der Lust, Herr seiner Triebe, abgestumpft durch die vielen jungen Körper, die sich ihm täglich um den Preis seiner Barmherzigkeit oder seiner Protektion feilboten.“

Der Roman wechselt zwischen drei Perspektiven. Einmal wird aus der Sicht der Frau erzählt, die Grund hat, sich zu fürchten, aber um ihren Mann zu kämpfen gewillt ist. Dann wieder sehen wir die Welt mit den Augen des Staatssekretärs, der das Gefühl der Inferiorität nie ganz los wird und daher obsessiv seine Macht auskosten muss, mit jeder erdenklichen Grausamkeit, aber auch in anfallsartiger Großmut. Denn dies ist wahre Macht: unberechenbar über Menschen verfügen zu können, sei es, dass man sie umbringt, sei es, dass man sie mit seinem Wohlwollen beschenkt. Der Staatssekretär lässt die Frau des Oppositionellen, über den er längst den Tod verhängt hat, von seinem Chauffeur nach Hause bringen; er besucht sie dort selbst, um sie davon zu unterrichten, dass es ihrem Mann gut gehe. Als eines Tages die Straßen des Viertels asphaltiert werden, wissen Frau Leroy und alle Nachbarn, dass dies ein bedrohlicher Gunsterweis des Staatssekretärs ist. Für die einen gilt sie jetzt schon als Hure, die anderen hoffen, der Schutz des allmächtigen Herrn würde sich auch auf sie und ihr bürgerliches Stadtviertel erstrecken.

Aber da ist noch eine dritte Perspektive. Die Frau findet das versteckte Tagebuch ihres Mannes, in dem er seine politischen Überlegungen und strategischen Erwägungen festgehalten, aber liebevoll auch über eine besonders tüchtige Genossin gegrübelt hat. Nach und nach erfährt die Ehefrau, die bereit ist, mit dem Teufel ins Bett zu gehen, um ihren Mann zu retten, dass dieser mit ihr, der bürgerlichen Dame, nicht glücklich war und ein Verhältnis mit einer echten proletarischen Genossin hatte. Die langen politischen Passagen des Tagebuchs sind luzide, man könnte sie heute noch zu einer Studie über die Niederlage der haitianischen Demokraten und den Beginn der Ära Duvalier zusammenfassen. Aber das persönliche Skandalon ist, dass die Frau ihrem Mann darin als unzufriedenen, nein, unglücklichen Ehemann begegnet.

Natürlich lässt der Staatssekretär es eines Tages nicht mit seinen Vergünstigungen bewenden, er nötigt die Frau zum sexuellen Verkehr, und wie er ihn in der Herrlichkeit seiner Macht vorbereitet und mit der ihm eigenen Brutalität vollzieht, handelt es sich zweifellos um eine Vergewaltigung. Aber die Frau, und das ist das Verstörende an Kettly Mars' Roman, weiß aus ihrem Vergewaltiger nach und nach ihren Geliebten zu machen. Und das tut sie nicht mehr aus Liebe zu ihrem Mann, vielmehr rührt der Staatssekretär, der jede Nacht rasend vor Begierde zu ihr kommt, etwas an, das tief in ihr verborgen lag: eine unbekannte Lust, zu der es genauso gehört, sich dem Gewalttäter zu unterwerfen, wie sich ihn mit Raffinesse abhängig zu machen.

Der Staatssekretär vernachlässigt seine beruflichen Pflichten, er wird unvorsichtig, denn er befindet sich im Vollrausch der Bemächtigung. Beklemmend legt Kettly Mars dar, wie es ihm gelingt, nicht nur die Frau seines Feindes zu erobern, sondern von dessen Wohnung Besitz zu ergreifen und sich auch die heranwachsenden Kinder gefügig zu machen. Die Autorin erzählt eine Geschichte voller Gewalt und ambivalenter Gefühle, deren Lektüre zunehmend schmerzt. Der Triumph des Staatssekretärs scheint vollkommen: „Er ist eingedrungen in das Privatleben eines Dissidenten, der Daniel Leroy hieß, und das Schicksal seiner Frau, seiner Kinder, seiner Dienstboten und seiner Katze hing allein von seinen Gelüsten ab.“

Rettungslos verloren ist der Gefangene. Seine Frau gibt sich dem primitiven Repräsentanten der Staatsmacht hin, wenn auch anfangs um seinetwillen; aber später wird sie sogar sein Tagebuch verbrennen, das dereinst in glücklicheren Tagen, lang nach seinem Tod, noch von seinen Ideen und Idealen hätte zeugen sollen. Das grausame Geschehen endet in einem alles verschlingenden Inferno: Die Frau muss hoffen, dass der Peiniger ihres Mannes, der Verführer ihrer Kinder, ihr Vergewaltiger und Beschützer, seine Macht behält. Das aber tut er nicht, denn wie er selbst auf seinen Posten kam, indem er seine Konkurrenten ermorden ließ, wird auch er eines Tages von Papa Doc Duvalier zu seinem elenden Untergang bestimmt werden.

Ein Roman, aufwühlend und verstörend, bei dem man manchmal versucht ist, sich gegen ihn wehren zu wollen, gegen die Zumutungen seiner Welt- und Menschenkenntnis, gegen die Energie, mit der er seine literarische Höllenfahrt bis zu ihrem schauerlichen Ende führt. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.06.2012)

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