Wie lange es den Euro noch gibt, weiß niemand. Ob die EU sich von ihren Überdehnungssymptomen erholt, ist offen. Nur um Europa muss man sich nicht sorgen.
Europa neu denken“ lautet der Titel einer wissenschaftlichen Tagung, die an diesem Wochenende in Triest in vielerlei Varianten der Frage nachgeht, was Europa ausmacht und wie es seinen Bewohnern leichter fallen könnte, so etwas wie ein europäisches Heimatgefühl zu entwickeln. Sprache, Alltagskultur und Hochkultur, so viel lässt sich sagen, spielen dabei eine größere Rolle als die Zinsen, die man derzeit für griechische und spanische Kreditausfallversicherungen lukrieren kann.
Man muss nicht sehr tief in die europäische Herkunft eintauchen, um zu begreifen, dass Thilo Sarrazin mit seinem Buchtitel „Europa braucht den Euro nicht“ die europäische Zukunft weit über den finanzpolitischen Horizont hinaus beschreibt. Man kann und muss Sarrazins These sogar zuspitzen: Nicht wenn der Euro scheitert, scheitert Europa. Europa scheitert, wenn die Behauptung, dass ein Scheitern des Euro Europa in Gefahr bringen könnte, ernst gemeint ist.
Günter Grass' neuestes Gedicht „Europas Schande“ ist handwerklich vermutlich der schlechteste lyrische Text, der in diesem Jahrhundert in einer renommierten deutschsprachigen Zeitung erschienen ist. Inhaltlich markiert er die endgültige Kapitulation eines Teils der antikapitalistischen Intellektuellen vor der von ihnen so lautstark beklagten Ökonomisierung aller Lebensbereiche. Da wird tatsächlich mit maximalem Pathos beklagt, dass ein Austritt Griechenlands aus dem Euro ein Verrat an der europäischen Herkunft wäre. So kann nur schreiben, wer nicht denkt oder wer denkt, dass das Europäische an Europa das Finanzielle ist.
Der andere Teil der antikapitalistischen Intellektuellen (man könnte auch schreiben: „der Intellektuellen“, aber es besteht immerhin die theoretische Möglichkeit, dass auf dem Kontinent auch liberale Intellektuelle ein unentdecktes, glückliches Leben führen) hat sich dazu entschlossen zu glauben, dass Europa das Bürokratische ist. Die Europäische Union in ihrer Gewordenheit wird zwar ob ihrer Demokratie- und Legitimationsdefizite kritisiert, gilt aber doch als Europa schlechthin. Würde die Union zerfallen, zerfiele in ihren Augen Europa. Auch das ist ein Verrat an der Idee, zu deren Verteidigung die weißen Buchstabenritter ausrücken.
Europa braucht weder den Euro noch die europäische Union. Nicht daran, dass er das ausspricht, erkennt man den Antieuropäer, sondern daran, dass er es bestreitet. Es gibt für diese Behauptung ausreichend faktische Evidenz: Wer würde bezweifeln, dass die Schweiz ein Teil Europas ist? Was sagt uns der Umstand, dass nur 17 von 27 Mitgliedern den Euro als Währung haben?
Kein vernünftiger Mensch wird hoffen, dass die Europäische Währung kollabiert. Kein vernünftiger Mensch wird das Ende der Europäischen Union herbeisehnen. Aber es ist an der Zeit zu sehen, dass die Europäische Union dabei ist, neben ihrem finanziellen auch ihr symbolisches Kapital zu verspielen. Die lindernde Salbe der Kooperation, die wesentlichen Anteil daran hatte, dass die Wunden der Jahrhundertkatastrophe heilen konnten, hat sich durch unsachgemäße Lagerung zum zentralistischen Suchtmittel entwickelt. Die regelmäßig geführte Klage, es sei doch ganz im Gegenteil eine schreckliche Renationalisierung zu beobachten, die uns zurück an die Abgründe des Faschismus bringen könnte, geht an den Tatsachen vorbei: Wir erleben keine Renationalisierung, sondern einen nationalistisch inszenierten Kampf um die beste Position im zentralistischen Spiel.
Wie lange es den Euro noch gibt, kann keiner sagen, ob die Europäische Union ihre Überdehnungssymptome kurieren kann, wird man sehen. Ohne Schmerzen wird beides nicht zu haben sein. Finanzpolitisch ist das inzwischen allen klar. Dass auch die Wiedergewinnung einer politischen Perspektive für die Union nicht ohne gröbere Turbulenzen zu haben sein wird, hat die öffentliche Wahrnehmungsschwelle noch nicht überschritten.
Nur um Europa muss man sich keine Sorgen machen: Es hat so viel Herkunft, dass seine Zukunft nicht zu verhindern ist, nicht von der Union und nicht von ihrer gemeinsamen Währung.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.06.2012)