Goldene Zeiten an der Weichsel

Polen, einer der Gastgeber der kommenden Fußball-EM, ist in einem rasanten Aufschwung begriffen. In die europäischen Wehklagen über Sparen und Stagnation möchte man in Warschau nicht einstimmen: Der Abstand zum Westen mag zwar noch groß sein, doch er verringert sich – und zwar rasch.

Für einen Mann, dessen ökonomische Raison d'être die Lebensfreude ist, macht Dante Cinque einen recht trübsinnigen Eindruck. Der unmittelbare Grund ist rasch erklärt: Ein Stau in Janki vor den südlichen Toren Warschaus hat seinen Zeitplan gehörig durcheinandergebracht. Doch der Römer, der seit 20 Jahren in Polen lebt und seinen Lebensunterhalt mit dem Verkauf von italienischen Boliden verdient, hat auch sonst einiges an seiner Existenz als Emissär von Ferrari auszusetzen.

Cinque lehnt an seinem mit cremefarbenem Leder überzogenen Schreibtisch – rechts von ihm ein maßstabsgetreues Modell eines Learjets, links zwei iPhones, dazwischen der Espresso – und zählt in fließendem Polnisch die Gründe für seine Misere auf. Da wären zunächst einmal die Absatzzahlen: „In einem Land wie Polen müsste ich eigentlich 130 Autos pro Jahr verkaufen. Ich schaffe aber nicht mehr als ein gutes Drittel davon.“ Überhaupt, die Kundschaft: „Sie können sich nicht vorstellen, wie hier gefeilscht wird. Schlimmer als bei den Deutschen!“ Und zu guter Letzt sei es alles andere als einfach, Mitarbeiter zu finden, die den Qualitätsvorstellungen von Ferrari entsprechen.

Auf Cinques Assistenten, der seinem Chef einen frischen Mokka bringt, scheint diese Kritik nicht zuzutreffen: die Schuhe spitz, der Stoppelbart gepflegt, der Anzug neapolitanischen Zuschnitts – ein Bild wie aus der „L'Uomo Vogue“. Und auch mit dem Geschäft ist es nicht so schlimm, wie es zunächst klingen mag. Die Verkaufszahlen könnten zwar besser sein, dafür aber ist der Ferrari-Salon, der vor nicht einmal zwei Jahren im ehemaligen Hauptquartier der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei eröffnet wurde, absoluter Spitzenreiter in einer anderen Kategorie: Nirgendwo sonst auf der ganzen Welt verkaufen die Italiener teurere Modelle als in Warschau. Noch ist Polen für Ferrari nicht verloren.

Neun private Hubschrauber. Wenn die Nachfrage nach Luxusgütern ein Maßstab der Entwicklung ist, dann hat Polen in der Tat noch einen weiten Weg vor sich. Nobelmarken wie Gucci oder Prada sind in der polnischen Hauptstadt erst seit ein, zwei Jahren präsent – wenn überhaupt. Beim BIP pro Kopf hält man bei der Hälfte des deutschen Niveaus. Und wie die Recherchen der „Financial Times“ ergeben haben, gibt es in dem 38-Millionen-Einwohner-Land gerade einmal neun private Hubschrauber. Die Kluft zwischen Polen und dem arrivierten Teil Europas bleibt also gewaltig.

Allerdings schließt sie sich, und das ziemlich rasch. Während der Süden und Westen der Union seit 2008 in der Dauerkrise stecken, schaffte Polen in dem Zeitraum ein kumuliertes Wirtschaftswachstum von knapp 16 Prozent – selbst im Katastrophenjahr 2009, als alle anderen schrumpften, gab es ein Plus. Die Staatsverschuldung ist mit 55 Prozent des BIPs moderat, das Budgetdefizit im Rahmen der Maastricht-Kriterien, die Arbeitslosigkeit mit rund zehn Prozent niedrig – zumindest für polnische Verhältnisse. Polens Banken haben bei der globalen Schuldenorgie nicht mitgemacht und folglich kaum toxische Wertpapiere in ihren Büchern. Und die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) prognostiziert für die kommenden zwei Jahre ein BIP-Plus von jeweils drei Prozent.

Die Fußball-EM, die Polen gemeinsam mit der Ukraine veranstaltet, hat dem Land einen zusätzlichen Entwicklungsschub verpasst. Wie Experten der Erste Group errechnet haben, investierte Polen rund 20 Mrd. Euro in die Euro – in Sportanlagen, Schnellstraßen, Bahnhöfe, Flughäfen. Vieles wird zum Anpfiff am 8. Juni nicht fertig – etwa die angekündigte zweite U-Bahn-Linie in Warschau, die momentan nur in der Gestalt von tiefen Kratern im Stadtzentrum zu bewundern ist. Auch in den versprochenen Autobahnen klaffen noch Lücken – was aber nicht die allgemeine Freude daran trübt, dass das Straßennetz zum ersten Mal seit der Ära von KP-Chef Edward Gierek auf Vordermann gebracht wird – und zwar mit finanzkräftiger Unterstützung der EU.

Kein Wunder also, dass die Zustimmung zu Europa in Polen besonders hoch ist und dass Umfragen mit schöner Regelmäßigkeit ergeben, dass die Bevölkerung mit Zuversicht in die Zukunft blicke. Selbst dem „Spiegel“ war dieser Optimismus unlängst sieben Seiten wert. Titel des journalistischen Lokalaugenscheins: „Das Wunder von nebenan“.

Davos in Südpolen. Wenn jemand über die Ursachen dieses Wunders Bescheid wissen muss, dann ist es Zygmunt Berdychowski, das polnische Pendant zu Klaus Schwab. Wie sein ungleich bekannterer Kollege aus Davos veranstaltet Berdychowski ein Wirtschaftsforum – im südpolnischen Kurort Krynica, wo er seit 21 Jahren Granden aus Wirtschaft und Politik empfängt und nebenbei einen heroischen Kampf gegen die Unzulänglichkeiten der örtlichen Infrastruktur führt.

Die Geschichte des Forums ist auch die Geschichte des polnischen Wirtschaftswunders. „Am Anfang war es der Basar-Adel, der nach Krynica kam. Kleinunternehmer, für die nur Bares Wahres war“, erinnert sich Berdychowski. Heute hingegen seien es Vorstände von zusehends international agierenden Konzernen sowie immer mehr ausländische Besucher.

Doch zurück zur Grundlagenforschung: Laut Berdychowski waren es die Anfang der 90er-Jahre initiierten Marktreformen, die den ersten Wachstumskick verpassten, später kamen der europäische Binnenmarkt und die Mittel aus den EU-Fördertöpfen hinzu. Und wie halten es die Polen mit der freien Marktwirtschaft? „Sie haben den Kapitalismus für sich entdeckt und sind momentan ganz euphorisch.“
Lieber ohne Gängelband. Euphorie klingt auch bei Maciej Janiszewski an, wenn er im Café Szpilka am Plac Trzech Krzyży in der Warschauer Innenstadt vom Wandel spricht. Der Consulter, Jahrgang 1974, verfügt über einen differenzierteren Blickwinkel, denn er hat seine Kindheit nicht in Polen, sondern in Wien verbracht – der Vater hatte einen Posten bei der UNO. Momentan berät er einen Automobilzulieferer im Nordosten des Landes bei der Restrukturierung, doch heute ist sein freier Tag – Zeit also, um über die Gründe für den polnischen Optimismus zu sinnieren.

Janiszewski ortet den Schlüssel in der Geschichte: „Durch die jahrhundertelange Besatzung mussten wir lernen, auf uns selbst zu zählen. Das unternehmerische Denken ist uns eingeimpft worden.“ Viele seiner Studienkollegen hätten Posten bei ausländischen Arbeitgebern aufgegeben, um ihr eigenes Business aufzuziehen. „Wir sind halt ungern am Gängelband.“

Dass sein Land eines Tages mit Deutschland gleichziehen könnte, wie es der Ökonom Leszek Balcerowicz (siehe unten) für denkbar hält, daran glaubt der Unternehmensberater zwar nicht – allerdings sei Deutschland auch nicht unbedingt der Maßstab, an dem man sich hundertprozentig orientieren müsse. Für Janiszewski lautet das Ideal wie folgt: „Pünktlich sein wie die Deutschen, das Leben genießen wie die Franzosen und so draufgängerisch sein wie die ukrainischen Kosaken.“

„Hungrig nach Aufstieg.“ Apropos Ukraine: Viele Polen mögen zwar mit dem Nachbarn im Osten emotional verbunden sein – aufgrund einer gemeinsamen, aber alles andere als friktionsfreien Geschichte –, doch die Kluft zwischen den beiden Ländern hat sich im Laufe der vergangenen zwei Jahrzehnte vertieft. 1989 betrug der Abstand bei der durchschnittlichen Kaufkraft lediglich 30 Prozent zugunsten Polens. Heute sind es rund 300 Prozent.

„Polen ist mittlerweile so weit entwickelt, dass es für die Ukraine kein unmittelbares Vorbild mehr sein kann“, glaubt Aleksander Smolar, der die von Milliardär George Soros dotierte Stefan Batory Foundation leitet und privat zwischen Warschau und Paris pendelt. EM-Boykottaufrufe gegen die Ukraine im Zusammenhang mit der Inhaftierung von Julia Timoschenko hält er jedenfalls für kontraproduktiv, man sollte nicht „das Volk bestrafen“.

Der Soziologe nennt noch einen weiteren Grund für die Dynamik der polnischen Entwicklung: „Im Vergleich zu Tschechien oder Ungarn, die mehr in die Habsburgermonarchie eingebettet waren, verfügte Polen über eine deutlich kleinere Mittelschicht. Das Gros der Bevölkerung war nicht bürgerlich – dafür dynamisch und hungrig nach Aufstieg.“ Doch der übermäßige Optimismus ist Smolar nicht geheuer: „Die Krise wird auch uns erreichen“, Polen sei keine Insel der Seligen.

Museum im Möbelsalon. Joanna Mytkowska hat bereits Erfahrung mit Krisenmanagement. Die Kuratorin wurde vor fünf Jahren vom Pariser Centre Pompidou nach Warschau geholt, um das neu gegründete Museum zeitgenössischer Kunst zu leiten. Seither ficht sie mit der Stadtverwaltung, die bezüglich des versprochenen Umzugs in einen neues Museumsgebäude im Stadtzentrum auf der Bremse steht. Jüngster Tiefpunkt: Der Vertrag mit dem Schweizer Architekten Christian Kerez, der den Neubau entworfen hat, wurde einseitig aufgekündigt.

Als Ersatz habe man ihr die Räumlichkeiten des benachbarten Möbelsalons „Emilia“ angeboten, berichtet Mytkowska. Die Stahl-Glas-Konstruktion aus den 1970er-Jahren verfügt zwar über eine der markantesten Neonreklamen der Metropole, als Unterkunft für die Institution, die momentan in einer Seitengasse hinter dem stalinistischen Kulturpalast untergebracht ist, eignet sie sich aber nur bedingt. Doch immerhin stehen 2,5 Mio. Euro für den Umbau zur Verfügung.

Von der Warschauer Bürokratie hat die Museumsdirektorin – wenig überraschend – keine besonders gute Meinung. Auch was die Wahrnehmung zeitgenössischer Kunst in Polen anbelangt, zeigt sie sich kritisch: „Komischerweise ist hier moderne Kunst immer politisch links konnotiert“, der Volksgeschmack tendiere zum national-sakralen Bombastkitsch. Dabei hätten polnische Künstler international ein gutes Standing – etwa Artur Żmijewski, der heuer die Berlin Biennale leitet. Oder die Bildhauerin Alina Szapocznikow, deren Ausstellung im New Yorker Museum of Modern Art Mytkowska gerade vorbereitet.

Doch dass sich die Gesellschaft wandelt, steht auch für die Direktorin außer Frage. „Die Menschen hier werden toleranter.“ Und was stimmt sie besonders zuversichtlich? „Unlängst hat eine Umfrage ergeben, dass schon zehn Prozent der Polen keinen Fernseher mehr haben. Wenn das kein Grund zum Optimismus ist.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.06.2012)

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