Verrückte, Dichter, Derwische

Das endgültig verlorene Paradies der Kindheit ist nur einer der Handlungsstränge in Nedim Gürsels zauberhaftem Roman „Allahs Töchter“. Ein türkischer Junge steht ganz im Bann der islamischen Legenden.

Die Zeiten ändern sich. Nichts bleibt, wie es ist. Nur das Wort Gottes soll ewig währen. Doch dieser Gott, arabisch Allah, scheint weit weg zu sein. Wundert es dann, wenn ein leidenschaftlicher Erzähler sich auf schwingt, in Wüsten und Paradiesgärten dem Geheimnis des Lebens auf die Spur zu kommen? Und wundert es, da dieser Gott in so unerreichbaren Fernen weilt, dass die Menschen Götzenbilder einsetzen, die sich um ihre handfesten Belange kümmern? In der Zeit der Unwissenheit – der vorislamischen Periode – sind das die sogenannten Töchter Allahs: Lat, Uzza und Manat, Götzen aus Stein und Holz, die in der Kaaba in Mekka stehen.

Nedim Gürsel ist ein großartiger Geschichtenerzähler. Er lässt in diesem kunstvoll gebauten, ungemein vielschichtigen Roman, der teils auch autobiografische Züge enthält, viele Stimmen erklingen. Ein in die Jahre gekommener Erzähler erinnert sich an seine Kindheit, und auf wunderbare Weise verweben sich die fantastisch überbordende Gefühls- und Gedankenwelt eines kleinen Jungen in der Türkei mit den Legenden und Prophetengeschichten des Islam wie auch dem Leben seines Großvaters. Dieser hat den Niedergang des Osmanischen Reichs erlebt und musste im Ersten Weltkrieg Medina, die Stadt des Propheten, gegen seine arabischen Glaubensbrüder verteidigen, die mit den Engländern unter der Führung von Lawrence von Arabien gemeinsame Sache machten.

Gürsel changiert meisterhaft die diversen Zeitebenen, Schicksale, Schauplätze und Erzählperspektiven, und immer wieder taucht – auf verschiedene Weise – die ungelöste Frage auf: Wie lässt sich der Glaube verstehen, wie die Gewalt, die ihn begleitet? Bedeutet Islam doch Frieden und Hingabe. Das Leben des Buben bei den Großeltern ist voll Seligkeit, doch plagen ihn auch schreckliche Ausmalungen der Hölle oder die Tragödie jedes Jahr zum Opferfest, wenn er den geliebten Hammel dem Tod anheimgeben muss. Zugleich ist er völlig bezaubert vom geheimnisvollen Klang des Arabischen, den rhythmisch fließenden Koran-Rezitationen, und er steht ganz im Bann der religiösen Wunder und Geschichten. Während die gleichaltrigen Freunde von Tarzan schwärmen, wird für ihn der Prophet Mohammed zum Helden seiner Träume und Fantasien.

Mit leichter Melancholie trauert der Erzähler dem verlorenen Paradies der Kindheit nach, der Zeit, als naive Hingabe noch möglich war. Denn mit dem Verstehen des Textes der Offenbarung verlieren die Worte etwas von ihrem magischen Zauber, zudem lassen sie für ihn auch etwas unverständlich Profanes zu, sodass die Kenntnis der Bedeutung der Worte des Koran ihn letztlich seines Glaubens beraubt.

Seine lebhafte Fantasie und Lust am Erzählen hat er aber nicht verloren. So ist der Roman sehr sinnenfreudig, auch erotische und phallische Passagen, eingebettet in feine Ironie, säumen die Karawane der Heiligen. Starke Personen treten auf, Mitstreiter und Feinde Mohammeds, Furien, Verrückte, Dichter und Derwische, und die Töchter Allahs: Göttinnen, die reden, wie Frauen reden, sehr menschlich, ausgestattet mit Gefühlen wie Neid, Schadenfreude oder Begehren. Ebenso ist auch der Prophet als Romanfigur sehr menschlich gezeichnet, in einer respektvollen Mischung aus Bewunderung und Fragen.

Es verwundert aber nicht allzu sehr, dass Gürsel nach Erscheinen seines Romans in der Türkei vor Gericht zitiert wurde: Anklage wegen Blasphemie. Es ist ärgerlich, wenn das Amt für religiöse Angelegenheiten über literarische Werke Urteile fällen will, doch hat dies dem Buch sicher auch viel Popularität gebracht. Die Anklage wurde inzwischen fallen gelassen, was nicht zuletzt damit zusammenhängt, dass Nedim Gürsel für seine Romane immer sehr gewissenhaft die historischen Quellen studiert, auch wenn er diese dann mit seiner Interpretation und Fabulierkunst ausschmückt.

Dennoch gibt es einige glückliche oder unglückliche Entscheidungen in diesem Roman. „Allahs Töchter“ hat als Titel durchaus einen hohen Verführungswert – könnte „Unwissende“ allerdings auch auf Abwege bringen.

Im Zusammenhang mit den Götzenfiguren ist die Assoziation mit den „Satanischen Versen“ – einer Episode aus der islamischen Überlieferung, in der die drei Göttinnen als Kraniche bezeichnet werden, auf deren Fürbitte man hoffen dürfe – wohl unvermeidlich, damit auch eine Nähe zu Salman Rushdie. Tatsächlich aber spielen die „Satanischen Verse“ mit ihrer moderaten Einflechtung hier keine große Rolle. Gewissermaßen tun das auch die Töchter Allahs nicht. Während sich die anderen Geschichten im Roman mit den Erinnerungen des kleinen Jungen mischen, stehen die Passagen, in denen Lat, Uzza und Manat das Wort ergreifen, einfach da, ein bisschen wie „Säulenheilige“.

Dabei könnte schon allein das Thema der Töchter – der Prophet hatte keine männlichen Nachfahren, nur Töchter – enorme Zündkraft in sich bergen, doch dahin legt Gürsel keine Lunte. Der Gang seiner Geschichten bleibt ausgewogen, und keine Erzählung steht über der anderen.

Was die Cover-Wahl von „Allahs Töchter“ anbelangt: Sie ist definitiv unglücklich geraten und führt in die Irre. Während in der türkischen Ausgabe eine Tür mit farbigem Tuch in die Kaaba hineinführt, ist hier eine verschleierte Frau in Schwarz abgebildet. Unwillkürlich kommen alle Klischees hoch, man denkt an verhüllte, unterdrückte, sprachlose Frauen, an ihr Recht oder Unrecht im Islam – was nichts mit dem Roman zu tun hat. All diese Assoziationen sollte man beiseitelassen. Am besten ist es, das Buch einfach zu lesen und ohne Erwartungen einzutauchen. Denn schon mit den ersten Zeilen ist es von hohem Lesegenuss, von hörbar stiller, großer Schönheit, und darin liegt seine eigentliche Verführungskraft.

Nedim Gürsel lebt glücklich in Paris und lehrt türkische Literatur an der Sorbonne. Der 1951 Geborene kann auf eine 40-jährige literarische Tätigkeit zurückblicken mit vielen Essays, wie zuletzt „Sieben Derwische“, und den letzten Romanen „Der Eroberer“ und „Turbane in Venedig“. Er zählt zu den wichtigsten Autoren der Türkei und seine Werke liegen in über zwölf Sprachen vor. Für die deutsche Leserschaft gelingt es Barbara Yurtda mit ihrer ausgezeichneten Übersetzung, den Zauber der Erzählkunst Nedim Gürsels vollends zu bewahren. ■




Nedim Gürsel

Allahs Töchter

Roman. Aus dem Türkischen von Barbara Yurtdaş. 346S., geb., €25,70 (Suhrkamp Verlag, Berlin)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.06.2012)

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