Trotz vorsichtiger internationaler Rhetorik ist die Schwelle längst überschritten. Assad will das größtmögliche Chaos stiften.
Kairo/Damaskus. Die Frage stellte sich vor einigen Jahren im Irak, und sie stellt sich nun erneut in Syrien: An welchem Punkt wird ein interner Konflikt zum Bürgerkrieg? Beim Irak wurde damals lange von einem Land gesprochen, das „in den Bürgerkrieg schlittere“, das „am Vorabend“ eines solchen stehe. Man wollte dem Irak einfach lange nicht den Stempel des Bürgerkriegs aufdrücken. Die ausländischen Armeen im Lande, allen voran die US-Truppen, hätte das diskreditiert, weil sie ihn als Besatzungstruppen nicht verhindern konnten. Aber auch bei den arabischen Medien passte der Bürgerkrieg nicht ins Bild des heroischen Widerstands gegen die US-Besatzung.
Als am Ende dann doch alle vom Bürgerkrieg sprachen, war dieser praktisch schon vorbei. Ganze Viertel oder Landstriche waren je nach den lokalen Kräfteverhältnissen von Sunniten oder Schiiten gesäubert worden, die in sicherere „eigene“ Gebiete geflüchtet waren. Die Antwort der US-Armee war es damals, um Bagdads Viertel zum Schutz vor den Nachbarn hohe Betonmauern zu ziehen und für sich selbst Rückzugspläne zu schmieden.
In Syrien beginnt dieses Spiel nun von vorn. Der UN-Gesandte Kofi Annan spricht vor der UN-Vollversammlung von einem „drohenden Bürgerkrieg, wenn Syrien auf diesem Weg weitergeht“. Ban Ki-moon, sein Nachfolger als UN-Generalsekretär, redet ebenfalls von „der immanenten Gefahr eines Bürgerkrieges mit katastrophalen Folgen für Syrien und die Region“.
Aber das Massaker von Houla trägt bereits alle Spuren eines Bürgerkrieges. Alawitische Milizen aus dem Nachbardorf schlachteten ohne Gnade in Houla Kinder, Frauen und Männer ab, unter den Augen der syrischen Armee, die das Dorf zuvor „zurechtgebombt“ hatte. Das neuste Massaker in Mazraat al-Kubeir, dessen genaue Umstände noch nicht geklärt sind, deutet in dieselbe Richtung. Und es wird nicht lange dauern, da wird man von einem Massaker auf der anderen Seite hören, wenn sich die sunnitischen Nachbarn als Rache auf ein alawitisches Dorf stürzen.
Assads Spiel mit dem Feuer
Syriens Machthaber Bashar al-Assad beschränkt sich nicht mehr auf einen Kampf gegen Aufständische, er reißt nun das ganze Land in einen Bürgerkrieg. Das gewünschte Resultat der von ihm aufgemachten Rechnung: die Lage so zu komplizieren, dass sich keine ausländische Macht traut zu intervenieren – nicht zuletzt mit der irakischen Erfahrung im Kopf. Zudem will Assad die Grenzen verschwimmen lassen: von Aufständischen, die vor einem repressiven Regime gerettet werden müssen, zu einer vollkommen unübersichtlichen Lage, von der man besser die Finger lässt.
Die Rechnung des Regimes könnte aufgehen. Dabei spielt es aber mit dem Feuer. Assad wäre vorerst gerettet und hätte Zeit gewonnen. Doch das Regime hätte damit ein neues Problem: Denn es hätte aktiv eine Situation entstehen lassen, die es am Ende wohl selbst nicht mehr kontrollieren kann.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.06.2012)