Demokratisch sauberer EU-Staat ist die bessere Lösung

Warum das gemeinsame Europa eine Machtstruktur braucht, die den nationalen Interessensabtausch auflöst und gemeinsame Verantwortung schafft.

Es begann in Nizza. Nicht etwa in der aktuellen Schuldenkrise, sondern bereits zur Jahrtausendwende hat sich die Europäische Union diskreditiert. Aus der Idee, eine Zone des wirtschaftlichen Wohlstands und der politischen Stabilität zu schaffen, war ein politisches System erwachsen, das sich im Abtausch nationaler Interessen korrumpierte. Die Spieler tauschten von Chirac zu Sarkozy zu Hollande, von Kohl zu Schröder zu Merkel, aber die Spielregeln wurden nach und nach ausgehöhlt oder adaptiert. Für einen Abgeordneten weniger wurde Belgien bei den Verhandlungen zum Nizza-Vertrag zugestanden, künftig alle EU-Gipfeltreffen abhalten zu dürfen. Das ist seitdem ein tolles Geschäft für die Brüsseler Gastronomie, aber ein fatales Sinnbild für die Qualität europäischer Entscheidungsfindungen.

Gemeinsame Verantwortung erodierte im peinlichen Kräftemessen der meist männlichen Staats- und Regierungschefs. Dass ein solches System für Zeiten der Krise die schlechteste Voraussetzung bot, hat sich seit 2009 immer deutlicher offenbart. Der Kampf gegen das reale Schuldenproblem geriet deshalb zum Interessensabgleich politischer Alphatiere, die voll Lust mit nationalistischen Gefühlen spielten, nur um ihre eigene, innenpolitische Machtbasis zu verstärken. Bald hat sich denn auch herausgestellt, dass die Aufwertung der Treffen der Staats- und Regierungschefs der EU der größte inhaltliche Fehler des neuen Lissabon-Vertrags gewesen ist. Hier wurde der politische Basar auf höchster europäischer Ebene institutionalisiert. Abseits demokratischer Kontrolle und Transparenz konnten dadurch schmerzliche Reformen umschifft, notwendige Kontrollen verhindert werden.

Seitdem die Eurozone in eine schwere Schuldenkrise geraten ist, war die produzierte Angst vor einem Souveränitätsverlust ständig größer als der Wille zu gemeinsamen Reformen. Mit dem Hinweis auf eine allzu große Machtkonzentration in Brüssel wurde aber letztlich nur verhindert, dass die Staats- und Regierungschefs der EU ihre dominante Position verlieren. So sind per Vertrag die Delinquenten der Schuldenkrise zu ihren eigenen Richtern aufgestiegen. Die EU-Kommission unter dem schwachen Präsidenten José Manuel Barroso ließ sich entmachten. Und das Europaparlament wurde mit neuen Rechtskonstruktionen wie dem Fiskalpakt schlicht umgangen. Im Krisenmanagement gibt es de facto keine parlamentarische Kontrolle mehr, nur unsaubere Kooperationen unterschiedlicher Staaten.

Kurios: Den EU-Institutionen (Kommission und Parlament) wurde jene demokratiepolitische Machtbasis, jene Kompetenz verweigert, die sie benötigt hätten, in der Krise gegenzulenken. Gleichzeitig werden nun dieselben EU-Institutionen für ihre Ohnmacht gegenüber nationalen Fehlentwicklungen wie in Griechenland oder Spanien verantwortlich gemacht. Viele haben vergessen, dass etwa die EU-Kommission gegen den Bruch des Euro-Stabilitätspakts durch Frankreich und Deutschland 2002 Sturm gelaufen war, von den nationalen Regierungen aber gemeinsam in die Schranken gewiesen wurde.

Die Europäische Union, aber auch der Euro werden nie funktionieren, wenn sie allein von Staats- und Regierungschefs gestaltet und kontrolliert werden. Insoweit sind die nun erstmals vorgelegten Vorschläge von zehn EU-Außenministern richtig. Soll die EU funktionieren, muss ihre Macht ausbalanciert werden. Der Preis dafür – das muss ehrlich gesagt werden – ist ein Verlust nationaler Souveränität zugunsten eines neuen demokratischen Systems auf europäischer Ebene. Das würde beispielsweise bedeuten, dass EU-Länder ihre Budgets zwar selbstständig entwickeln, aber dann von gemeinsamen Institutionen absegnen lassen müssen.

Ein sauberes demokratisches System für die EU, das einem staatlichen Gebilde ähnelt, mag der vorherrschenden Stimmung in vielen Bevölkerungsschichten widersprechen. Aber wer sich gegen den Zerfall der Währung, des Binnenmarkts, der Auflösung politischer Stabilität, der Entwicklung neuer Wohlstandsklüfte zwischen Nord- und Südeuropa, einer weiteren Stärkung nationalistischer Tendenzen stellen möchte, wird es letztlich vorziehen.

E-Mails an: wolfgang.boehm@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.06.2012)

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