Wer sich auf Torrichter verlässt, kann verloren sein

(c) AP (Matthias Schrader)
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Die Ukrainer fühlen sich um ein reguläres Tor bestohlen. Der Ball hatte mit vollem Umfang die Torlinie überschritten. Die Uefa hätte dieses Problem relativ leicht verhindern können.

Donezk/Wien. Oleg Blochin war außer sich, er gestikulierte, er schrie, er machte seinem Ärger Luft. Aber es nützte alles nichts, der vierte Schiedsrichter war auch irgendwie die falsche Adresse. „Die Schiedsrichter haben uns ein klares Tor gestohlen!“, schimpfte der ukrainische Teamchef weiter. „Der Ball war einen Meter hinter der Linie – so etwas muss man doch sehen. Das ist eine unbeschreibliche Ungerechtigkeit.“ Eine fatale Fehlentscheidung erhitzte in Donezk die Gemüter, dem Gastgeber war gegen England die Anerkennung eines Treffers verwehrt geblieben. Der Ball hatte mit vollem Umfang die Torlinie überschritten.

Nach den Polen sind auch die Ukrainer ausgeschieden. Gegen eine englische Mannschaft, die nicht unverwundbar war. Die Ukrainer fanden einige Möglichkeiten vor, letztlich aber wurden sie nur zu tragischen und betrogenen Helden. Schiedsrichter Viktor Kassai aus Ungarn hatte die Letztverantwortung, im Stich gelassen aber wurde er vom Torrichter, der in der entscheidenden Szene mit Blindheit geschlagen war. Ereignet hat sich die folgenschwere Situation in der imposanten Donbass-Arena in der 62. Minute. Ein Schuss des eingebürgerten Serben Marko Dević senkte sich über Englands Torhüter Joe Hart in Richtung Maschen, das Leder erreichte die Torlinie – und überschritt diese. John Terry eilte heran, wollte retten, was noch zu retten ist, beförderte den Ball wieder aus dem Gehäuse und dem Gefahrenherd. Die Ukrainer jubelten – aber der ungarische Torrichter rührte keinen Finger. Und damit ließ auch Referee Kassai einfach weiterspielen.

„Kommen Sie mit nach draußen“

Die TV-Bilder stellten den Torrichter nur wenig später bloß. Er war stur auf seiner weißen Linie picken geblieben, starrte genau auf die Torstange. Hätte er nur einen kleinen Schritt seitwärts gemacht, er hätte die Situation klar erkennen müssen. Menschliches Versagen, das die Ukrainer zur Weißglut trieb. Teamchef Oleg Blochin war dermaßen in Rage, dass er einem kritischen Journalisten bei der Pressekonferenz sogar Prügel androhte. „Ich antworte auf so eine provokante Frage nicht. Wenn Sie ein Mann sind, dann kommen Sie doch mit nach draußen!“

Die Gastgeber stehen nun als Märtyrer da, schließlich passierte das Missgeschick beim Stand von 0:1. Bei einem 1:1 wäre vielleicht alles anders gelaufen. das glaubt auch Altstar Andrej Schewtschenko, der diesmal als „Jolly Joker“ von der Bank kam, aber bei seinem letzten Auftritt bei einem Großereignis nichts bewegen konnte. Er beendet frustriert die Teamkarriere. „Der Treffer hätte das Spiel verändert“, sagt er. „Man kann zwar nicht von Diebstahl sprechen, aber ich verstehe es einfach nicht. Ich verstehe nicht, warum wir bei einer Europameisterschaft auf Technologie verzichten.“

Fairerweise muss man ergänzen, dass Marko Devićs Passgeber zuvor im Abseits gestanden ist. Das nicht anzuzeigen, war Fehler des Linienrichters. Hätte er die Fahne gehoben, dann wäre es zur noch schlimmeren Fehlentscheidung gar nicht gekommen.

Bereits beim Duell zwischen Spanien und Kroatien wurde ein Elfmeter nach einem Foul von Ramos an Torjäger Mandžukić „übersehen“. Wenn es in dieser Schiedsrichtertonart weitergeht, dann bedeutet das für die K.-o.-Phase nichts Gutes.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.06.2012)

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