Kinderheime: „Historische Katastrophe“

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Der am Mittwoch präsentierte Bericht der Historiker-Kommission zeigt die „lieblose, menschenverachtende und gewaltsame Erziehung“ in Wiener Kinderheimen von den '50er- bis zu den '70er-Jahren.

Wien/Kb. Abgeschottete Institutionen, eine autoritär geprägte, latent gewalttätige Nachkriegsgesellschaft und der dramatische Mangel an gut ausgebildeten Erziehern sind für Historiker Reinhard Sieder die Hauptgründe dafür, dass in städtischen Kinderheimen über Jahrzehnte hinweg systematischer Missbrauch stattfand. „Es ist eine historische Katastrophe von unglaublichen Ausmaßen“, sagte der Leiter der Kommission zur Untersuchung von Gewalt in Wiener Kinderheimen am Mittwoch bei der Präsentation seines Berichtes, der Ende des Jahres auch als Buch erscheinen wird.

Aufgerollt wurde der Zeitraum von den '50er- bis zu den '70er-Jahren. In Gesprächen mit 20 Betroffenen sei erstmals die erschreckende Dimension der Gewalt deutlich geworden. Die großen Heime sind nach den 1970er-Jahren zwar geschlossen worden, eine Aufarbeitung der Geschehnisse habe aber nie stattgefunden. „Es gab keine Forschung dazu.“ Mittlerweile stehe fest: Für einen Teil der Erzieher sei körperliche, seelische, sexualisierte und sexuelle Gewalt Teil ihrer Erziehungsmethoden gewesen. „Bei der sexualisierten wird im Gegensatz zur sexuellen Gewalt eine pädagogische Ambition zumindest vorgetäuscht“, so Sieder. „Es braucht nicht viel Fantasie, um zu erahnen, dass das mit einem sadistischen Lustgewinn verbunden ist.“

1105 Missbrauchs-Meldungen

Der Wunsch mancher Erzieher, gewaltsam zu disziplinieren, passe in die autoritär ausgerichtete Gesellschaft und ihre katholisch und nationalsozialistisch geprägte Fehlentwicklung. Vor allem die 1950er-Jahre seien noch im Schlagschatten der faschistischen Epoche in Europa und der mentalen Auswirkungen des Krieges gestanden. „Das Leid der Betroffenen wurde nicht anerkannt – und auch von der Wiener Bevölkerung ignoriert.“

Die Fälle seien im Übrigen alle verjährt. Auch finden sich keine Namen mutmaßlicher Täter in dem Bericht. Seit 2010 – damals nahm auch die Kommission ihre Arbeit auf – gibt es für Opfer die Möglichkeit, finanzielle Unterstützung bzw. therapeutische Hilfe zu erhalten. Bis heute wurden in den Gremiumssitzungen der Opferschutzorganisation Weißer Ring 769 Fälle behandelt. Für 550 Personen wurde finanzielle Hilfe beschlossen und für 396 Psychotherapie bewilligt. Die meisten Meldungen entfielen auf die ehemaligen Heime Wilhelminenberg (132), Eggenburg (91 Meldungen), Hohe Warte (86), Hütteldorf (64), die KÜSt (Kinderübernahmsstelle, 64) und Biedermannsdorf (59).

Insgesamt haben sich bisher 1105 Menschen gemeldet. In praktisch allen Fällen fand physische und psychische Gewalt statt, fast die Hälfte der Betroffenen musste auch sexualisierte Gewalt erleiden. Zuerkannt wurden bisher in der Summe 17,1 Millionen Euro.

„Es sind unfassbare, erschütternde Geschichten, die man hier lesen kann“, kommentierte Jugendstadtrat Christian Oxonitsch (SP) den 500 Seiten umfassenden Bericht. Erlittenes Leid könne man nicht wiedergutmachen, man könne aber versuchen, zumindest ein Zeichen zu setzen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.06.2012)

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