„Wir stecken in der digitalen Pubertät“

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Der deutsche Professor Bernhard Pörksen im "Presse"-Interview über die Dynamik des digitalen Skandals, neue Akteure in der medialen Erregungsarena und die Ängstlichkeit der Politik im Angesicht des Shitstorms.

Die Presse: „Der entfesselte Skandal“ ist Ihr zweites Buch über den „Skandal“. Was fasziniert Sie so an diesem Begriff?

Bernhard Pörksen: Der Skandal ist eine Extremform der Kommunikation, die Normalität offenbart. Man erkennt, welche Normen in einer Gesellschaft gelten. Im Skandalschrei zeigen Einzelne oder ganze Gruppen ihr Verständnis von Normalität, indem sie sagen: „Nein, das darf nicht sein.“

Nun konzentrieren Sie sich auf den Skandal im Netz. Wieso so spät?

Anlass war der Sturz des deutschen Bundespräsidenten Horst Köhler. Er gab auf dem Rückflug von Afghanistan ein Interview, das erst wenig Beachtung fand. Doch dann entdeckten Blogger darin einen Skandal, angeblich eine grundgesetzwidrige Rechtfertigung von Wirtschaftskriegen. Sie haben seine Sätze weiter gemailt, getwittert, und dann war er da, der Skandal – und Köhler ist zurückgetreten. Diese Geschichte zeigt: Wir brauchen im Zeitalter der digitalen Überallmedien ein neues Verständnis des Skandals. Er ist nicht mehr räumlich und zeitlich begrenzt: Informationen im Netz bleiben auf Dauer erhalten und sind von jedem Ort der Welt aus reaktivierbar. Und es gibt ganz neue Akteure in der Erregungsarena: Bloggerschwärme, die sich über die Doktorarbeit eines Ministers erregen, aber auch der aggressive Mob. Früher konnten nur Medien einen Skandal entfachen, heute kann das jeder. Und nicht mehr nur Mächtige oder Prominente werden zum Objekt von Skandalisierung.

Wo liegt der Ursprung des Skandals?

Bereits in einer mündlich organisierten Kultur gab es lokale Skandale. Sie wurden weitererzählt, es wurde jemand ausgegrenzt. Der Bruch kam mit den Massenmedien: Mit ihnen konnte der Skandal plötzlich ganz andere Aufmerksamkeit bekommen. Die neueste Form ist der digitale Skandal.

Worin unterscheiden sich alter und neuer Skandal?

Im massenmedialen System beginnt der Skandal in einer Redaktion, die entscheidet, etwas zu publizieren; am Ende steht das passive Publikum. Im digitalen Skandal können sich die Richtungen und Rollen völlig neu darstellen. Es kann sein, dass Blogger oder Twitterer tun, was früher die klassischen Medien taten, nämlich ein Empörungsangebot anbieten. Wird dieses von vielen Menschen akzeptiert, bildet sich eine Empörungsgemeinschaft, und auch die klassischen Medien greifen den Skandalisierungsvorschlag auf.

Brauchen Online- und klassische Medien einander?

Ja. Effektive Empörung ist darauf angewiesen, dass Massenmedien das Empörungsangebot mit der nötigen Autorität versehen, es ausrecherchieren, analysieren.

„FAZ“-Herausgeber Frank Schirrmacher glaubt, klassische Medien hätten „kein Gespür mehr dafür, ob etwas relevant ist“. Hat er Recht?

Ja. Wir sind in einer Phase der Dauerskandalisierung. Derzeit wird das Netz vorschnell zum Problem erklärt, faktisch sind aber alle Medien das Problem. Es gibt einen Wettbewerb zwischen den klassischen Medien und den Netzmedien: Wer kann lauter, schneller, massiver einen Empörungsvorschlag durchsetzen? Das führt dazu, dass das Gespür des Journalisten für Relevanz oft zugunsten des schnellen Skandals vernachlässigt wird.

Im Netz werden oft Lappalien skandalisiert, echte Missstände gehen unter.

Es werden schon auch bedeutsame Geschichten vor einem Weltpublikum ausgebreitet. Etwa die Folterfotos von Abu Ghraib oder die Plagiatsenthüllungen, bei denen Politiker ins Straucheln geraten sind. Aber es gibt parallel dazu die Neigung zur Skandalisierung von Banalitäten. Derzeit wird in Deutschland ein Entwicklungsminister zum Rücktritt aufgefordert, weil er einen Teppich aus Afghanistan eingeführt hat, ohne ihn zu verzollen. Solche Fälle zeigen, dass das Gespür für Relevanz beeinträchtigt wurde. Früher war die Öffentlichkeit eine Sphäre der Information; heute ist sie auch ein Ort für Erregungsexperimente, Motto: Regt sich jemand mit mir auf, dann hat das Experiment funktioniert; wenn nicht, dann ziehen wir unseren Empörungsvorschlag zurück und bringen die nächste Geschichte.

Sind Shitstorm und digitaler Skandal dasselbe?

Der Shitstorm ist ein netzinterner Empörungsorkan, der sich zu einer Skandalisierung auch offline steigern kann. Er ist die aggressive Vorstufe einer Skandalisierung.

Sie schreiben, ein digitaler Skandal dauert bis zu acht Wochen.

Eine Empörung, die über sieben Wochen hinausgeht, ist ungewöhnlich. Danach wendet sich das Publikum ab. Doch häufig machen die Skandalisierten selbst Fehler. Wenn der Umgang mit dem Skandal zum eigentlichen Skandal wird, nennen wir dies eine Grenzüberschreitung zweiter Ordnung. Klassische Beispiele sind Ex-Minister Guttenberg und Ex-Präsident Wulff.

Wie entkommt man einem Shitstorm?

Man gesteht den Fehler ein und bittet mit einer ernsten Geste um Entschuldigung.

Und wenn man sich unschuldig fühlt?

Das wird oft als arrogant wahrgenommen, und das kann die Empörung erneut anheizen. Die Demutsgeste ist ein wirksames Mittel zur Ad-hoc-Entschärfung. Überdies kann man darauf hoffen, dass nach ein paar Tagen alles vorbei ist. Meine Empfehlung: Jeder braucht heute eine eigene Medienstrategie – und muss sich überlegen, was er von sich im Netz preisgibt.

Sie meinen, dass nur wenige diese Medienkompetenz haben...

Ich glaube, wir sind in der Phase der digitalen Pubertät. Wir können uns die mögliche Zukunft unserer Handynachrichten, Facebook-Postings und Tweets nicht vorstellen. Das wird wohl auf Dauer ein Problem bleiben. Wir können unser Bewusstsein schulen, aber die mögliche Zukunft unserer Daten kann niemand vorhersagen. Deshalb haben wir den etwas resignativen Imperativ formuliert: „Handle stets so, dass dir die öffentlichen Effekte deines Handelns langfristig vertretbar erscheinen. Aber rechne damit, dass dies nichts nutzt.“

Wäre es eine Lösung, gar nicht im Netz zu agieren oder mit Fantasienamen?

Wie soll das funktionieren? Jeder trägt heute Allzweckwaffen der Skandalisierung am Körper, man nennt sie nur anders: Fotohandys zum Beispiel, Smartphones.

Die Piraten fordern völlige Transparenz im Netz. Können sie besser mit diesen Gefahren umgehen?

Nein. Sie verkörpern zwar das Idealbild des transparenten Politikers, twittern permanent, sind fortwährend auf Sendung. Sie verstehen zwar das Netz, aber nicht die Sensationsgelüste der Mediengesellschaft. Einzelne twittern ihr Stammtischgegröle über die Frauenquote und nennen sie „Tittenbonus“ oder vergleichen das Wachstum der eigenen Partei mit dem Aufstieg der NSDAP.

„Zeit“-Chef Giovanni di Lorenzo sieht Journalisten heranwachsen, die aus Angst vor dem Shitstorm im Netz meinungsscheu sind. Sehen Sie das auch?

Nein. Nicht im Journalismus. Aber in der Politik. Dort sehe ich eine neue Ängstlichkeit im Angesicht des Shitstorms.

In Ihrem Resümee schreiben Sie, Sie wollen die beschrieben Entwicklungen nicht bewerten. Warum nicht?

Es gibt im Moment eine völlig absurde Frontenbildung zwischen Technikeuphorie und –pessimismus. Auf der einen Seite heißt es: „Das Netz ist gut!“ Auf der anderen Seite: „Das Netz ist böse!. Dabei geht es eigentlich darum, dass wir mündiger werden im Umgang mit diesen neuen Technologien. Zudem versuchen wir (Pörksen hat das Buch gemeinsam mit der wissenschaftlichen Mitarbeiterin Hanne Dettel verfasst) empirisch zu zeigen, dass dieser entfesselte Skandal zwei Gesichter hat: Mal ist er nur grausames Spektakel, dann wieder dringend benötigte Aufklärung. Meine Hoffnung ist, dass sich ein stärkeres Gespür für Relevanz, Brisanz und Glaubwürdigkeit von Information ergeben könnte.

Buch und Autor

Bernhard Pörksen (Jhrg. 1969) ist Professor für Medienwissenschaft an der Uni Tübingen. Mit Hanne Detel, wissenschaftl. Mitarbeiterin, hat er soeben das Buch „Der entfesselte Skandal“ (Herbert von Halem Verlag, 250 Seiten) veröffentlicht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.06.2012)

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