Seit 2007 wurden mehr als 700 Journalisten, Akademiker, Parlamentarier und Verleger aus politischen Gründen verhaftet.
Die mutigsten Journalisten und Intellektuellen der Welt leben heute in der Türkei, sagt Noam Chomsky und er hat recht. Sie riskieren mit ihrem Einsatz für Minderheiten und Menschenrechte und für ihren Protest gegen staatliche Übergriffe auf Zivilisten lange Gefängnisstrafen oder sie werden gekündigt.
Seit 2007 wurden mehr als 700 Journalisten, Professoren, Universitätsrektoren, Parlamentarier und Verleger aus politischen Gründen verhaftet. In den letzten Jahren waren in der Türkei mehr Journalisten und Intellektuelle inhaftiert als in China, Russland und dem Iran zusammengenommen.
Justiz – unfähig oder unwillig?
Nach einem Bericht von Amnesty International wurden 2011 Tausende von Strafverfahren aufgrund eines vage verfassten Antiterrorgesetzes eingeleitet. Die türkische Justiz ist unfähig oder nicht willens, kriminelle Propagandisten eines Terrorkrieges, die zurecht mit strafrechtlichen Mitteln verfolgt werden, von jenen Publizisten zu unterscheiden, die die Einhaltung von rechtsstaatlichen Prinzipien einfordern.
Im März 2012 waren 104 Journalisten und 34 Verlags- und Medienvertriebsangehörige als Mitglieder einer terroristischen Vereinigung in Untersuchungshaft. Sie wurden entweder als Sympathisanten einer terroristischen Organisation oder als „Gründer einer kriminellen Vereinigung“ angeklagt. Nur sechs jener Angeklagten stehen oder standen direkt wegen eines inkriminierten Textes vor Gericht.
Kratzen am idealen Türkenbild
Journalist zu sein in Österreich erfordert heutzutage nicht sehr viel Mut. Man kann die halbe Regierung und deren Wähler für grenzdebil erklären und muss mit kaum mehr Konsequenzen rechnen als mit einer Rüge vom Presserat.
Wer es aber in der Türkei wagt, am Idealbild des Türkentums kräftig zu kratzen, riskiert Gefängnis. Die Türkei ist ökonomisch auf einem guten Weg. Durch einige ihrer außenpolitischen Initiativen hat ihre Regierung bewiesen, dass die Türkei ein konstruktives Mitglied der internationalen Gemeinschaft ist.
Beunruhigende Innenpolitik
Ihre Innenpolitik ist allerdings weniger beeindruckend: Die Situation der Frauen scheint sich zu verschlechtern und für die Rechte von Minderheiten ist nicht ausreichend gesorgt. Die Pressefreiheit, eine Voraussetzung für jede funktionierend Demokratie, ist nicht gewährleistet.
Der Mut der türkischen Intellektuellen ist längerfristig aber ein gutes Zeichen für ihr Land. Auch in Europa wäre die Pressefreiheit nicht durchgesetzt worden, wenn Intellektuelle nicht riskiert hätten, für ihr Recht auf freie Meinungsäußerung ins Gefängnis zu gehen.
So wie jeder französische Aufklärer wegen seiner Schriften um seine persönliche Freiheit bangen musste, verbüßten auch in Österreich in den letzten Jahrzehnten der Monarchie etliche Journalisten Gefängnisstrafen, weil sie gegen ein Pressegesetz der Monarchie verstoßen hatten.
Hoffnungen und Befürchtungen
Es ist zu hoffen, dass der aufgeklärte Teil der modernen türkischen Gesellschaft sich bald durchsetzt. Es ist zu befürchten, dass die Misere noch länger dauert. Die Solidarität der Europäer mit den türkischen Journalisten und Intellektuellen hält sich bisher in Grenzen. Zwei berühmte türkische Journalisten wurden inzwischen freigelassen, aber die Journalisten Çağdaş Kaplan, Mustafa Balbay, Naciye Yavuz, Ömer Faruk Çalışkan und Sultan Şaman sind nach wie vor in Haft. Lautstark dagegen protestiert wird nur in Istanbul.
Gerald Krieghofer, Philosoph, lebt als freier Mitarbeiter der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.06.2012)