Seele rollt auf leiser Achse

Wenn sich der Ablauf der Jahreszeiten Unregelmäßigkeiten erlaubt, es zu heiß oder zu kalt, zu trocken oder zu nass ist, kommt auch dem verstädterten Mitteleuropäer die Natur in den Sinn, zumindest als Gesprächsstoff.

Wenn sich der Ablauf der Jahreszeiten Unregelmäßigkeiten erlaubt, es zu heiß oder zu kalt, zu trocken oder zu nass ist, kommt auch dem verstädterten Mitteleuropäer die Natur in den Sinn, zumindest als Gesprächsstoff. Doch der Kreislauf der Natur hat eine existenzielle Dimension: Er verweist den Menschen auch in Zeiten virtueller Realitäten, der Gentechnik und Botoxspritzen auf seine Kreatürlichkeit. „Romane der Vergangenheit beginnen mit der Schilderung des Wetters, und stets enthalten die Haikus der Japaner den Hinweis auf die Jahreszeit als Beleg dafür, wie Neokortex seine Arbeit gleichsam schon vor dem Schreiben leistet.“ So heißt es anfangs in Ingmar Hartingers neuem Buch, das mit dem japanischen Jahreszeitenwort „Kigo“ sein Anliegen im Titel führt. Die vier Abschnitte entwerfen Porträts der Jahreszeiten, umspielt von Gegenwartserlebnissen wie Erinnerungsspuren aus allen Lebensphasen, und dabei zeichnen sich auch Umrisse der gesellschaftspolitischen Großwetterlage ab.

Es ist ein alternder Mann, „zu metaphysischem Gerede“ neigend, aber auch zu sorgfältig gemalten (Sprach-)Bildern, dessen Gedankenfluss den Jahreszeitenablauf durchstreift. „Harter Frost spannt sich über Gegenwart, und die Jahre ruhen bockig in ihm.“ Vielleicht geraten deshalb Kälte-Impressionen besonders dicht. Einer verlorenen Liebe wird nachgelauscht, den vergangenen Jahreszeiten im Auf und Ab des Lebens, und über allem schwebt ein Hauch von Abschied. Der feste Standort ist die Landschaft der Eltern, am Steinernen Meer, wo die Dohlen ihre Segelturns über dem Kopf des Beobachters absolvieren und das bewohnte Haus noch nicht den neuesten Energiesparkonzepten entspricht. Das beschert dem mit und um Einsamkeit ringenden Schreiber Eisblumenwildnisse, deren Aussterben mit den wärmetechnologischen Fortschritten naht.

 

Dem Mairegen folgt das Scheitern

Jahreszeiten „widerspiegeln ihre eigentliche Welt, und als sei die Erde ungeduldig, schwindet die Härte“. So beginnt der Frühling, und „ab nun – die nächste Zeit alles Übertreibung“. Psychisches Befinden und Wetterlage werden dabei nicht simpel parallelisiert, allenfalls: „Parallel gesagt: Es wird den Mairegen geben und ein weiteres Versteckspiel der Subjekte. Mit unruhig ungestümem Herzen wird man wieder einmal scheitern als Subjekt.“ Gedankensplitter über den Sonnblick und seine Wetterstation oder eine japanische Küstenlandschaft, über die kleinen Mühen und Versäumnisse des Alltags, Sehnsüchte und Niederlagen verbindet Hartinger mit sensiblen und originellen, überzogenen und verwirrenden Gedanken zu Wind und Wetter, Wolken und Luft. Und spürt in jeder Gedankenfolge den Abgründen nach. „Im Herbst wird die Pyramide von Wunsch und Verwunschenem, das Jahr über aufgehäuft, wieder eingeebnet“, heißt es gegen Ende. Und sanft rundet sich der Bogen des Erzählatems zum Winter hin. „Auf leisen Achsen rollt jetzt die Seele. Blank gewetzt ist das Land und wie abgewischt.“ „Kigo“ kann die Freude an einer geduldigen Lektüre wieder lehren, die über der Begeisterung für die glatten Plots aktuell leicht in Vergessenheit gerät. ■





Ingram Hartinger
Kigo

302 S., geb., €21 (Wieser Verlag, Klagenfurt)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.06.2012)


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