Sein bisschen Ewigkeit

Zeitschriften-Herausgeber, Gründer der „Volksbühne“ und mit knapp 30 einer der meistbeschäftigten Publizisten des deutschen Sprachraums: der Wiener Stefan Großmann, dessen Autobiografie jetzt wieder vorliegt.

Seine Theaterkritiken sind nicht ganzso luftig und leicht wie die seines Freundes Alfred Polgar, die Feuilletons weniger originell und extravagant als jene von Anton Kuh, und die Streitschriften erreichen nicht die sprachliche Brillanz und die Schärfe eines Karl Kraus, mit dem ihn eine innige Feindschaft verband. Aber Stefan Großmann gehört dennoch zu den großen österreichischen Publizisten im ersten Drittel des letzten Jahrhunderts, und dass er endlich wieder entdeckt werde, ist längst überfällig. Zu seiner Lebensleistung gehören nicht nur mehrere tausend Artikel, Glossen, Kritiken, in denen er sich mit dem Theater, der Justiz, der Politik, mit seinen beiden Lebensstädten Wien und Berlin auseinandersetzte, sondern auch, dass er eines der interessantesten Theater Österreichsgründete und mit dem „Tage-Buch“ eine derwichtigsten literarisch-politischen Zeitschriften der Weimarer Republik herausgab.

Großmann wurde 1875 in Wien als Kind verarmter jüdischer Kaufleute geboren, wuchs in bedrückenden Verhältnissen auf und floh als Gymnasiast vor dem despotischen Vater in die proletarische Vorstadt von Paris – „nie ist mein Himmel schwärzer, sonnenloser gewesen als hier“. In Brüssel sucht er die Bekanntschaft des Fürsten Kropotkin und in Berlin die von Gustav Landauer, unter deren Einfluss er sich dem Anarchismus verschreibt. Nach Wien zurückgekehrt, nähert er sich der Sozialdemokratie an und ist mit knapp 30 Jahren einer der meistbeschäftigten Publizisten des deutschen Sprachraums. Er stirbt 1935 in Wien, nachdem ihm zuletzt alles, was er sich im Leben aufgebaut und worauf er gesetzt hatte, genommen worden war, auch die Illusion einer demokratischen deutsch-österreichischen Republik, für die er sich 1918 heftig engagiert hatte.

Zwei seiner letzten Artikel zählen zu seinen besten. Für die von Klaus Mann herausgegebene Exilzeitschrift „Die Sammlung“ verfasste er einen Bericht über den österreichischen Bürgerkrieg vom Februar 1934. Hellsichtig erkennt er, dass Österreich damit zu „Mussolinis sterbender Kolonie“ geworden sei und der „Anschluss“ ganz anders kommen werde, als er ihn sich mit seinen linkssozialistischen Freunden in Berlin und in Wien vorgestellt hatte. Jetzt spricht er sich für die Unabhängigkeit Österreichs aus, in einem namentlich nicht gezeichneten Artikel,den die Regierung Dollfuß zum Vorwand nahm, den Vertrieb der antifaschistischen „Sammlung“ in Österreich zu verbieten.

Sein Freund Joseph Roth hat im Nebel seines Dauerrausches einen hochrangigen österreichischen Regierungsvertreter in einemgeradezu vertrottelten Brief inständig gebeten, die „Sammlung“ doch trotz des „blöden Artikels unseres alten blöden Compatrioten Großmann“ weiterhin erscheinen zu lassen. Dass er damit den Namen des Verfassers verriet und diesen in größte Gefahr brachte, zeitigte glücklicherweise keine Folgen.

Die Fehden mit Karl Kraus

Großmanns zweiter bedeutsamer Text am Ende seines Lebens war der „Offene Brief an Gerhard Hauptmann“, in dem er diesen aufforderte, sein Schweigen zu brechen und unmissverständlich gegen die Bücherverbrennungen in seiner Heimat Stellung zu beziehen. Sein alter Wiener Feind Karl Kraus mochte nicht einmal diesen Aufruf Großmanns hinnehmen und schrieb in der „Fackel“ verächtlich, als gehe es um die alten Fehden von Literaten undnicht um die Mordpolitik der Faschisten: „Wenn Hauptmann schweigt, so ist es immer noch besser, als wenn Großmann spricht.“

Die Feindschaft, die Kraus und Großmann seit gemeinsamen Nächten im Café Griensteidl verband, ist post festum meist als Kampf zwischen zwei unvereinbaren Konzepten von literarischer Publizistik gedeutet worden: hier der rastlose Großmann, der wohl für mehr als 50 Zeitungen geschrieben hat und immer neue Projekte gebar; dort der Einzelkämpfer Kraus, früh gepanzert in den Nimbus der Einsamkeit, der alle seine Kräfte grandios auf ein einziges Lebensprojekt bündelte, die „Fackel“. Ich empfehle den Verfassern künftiger Studien, die beiden Feinde einmal nicht aus ihren Gegensätzen heraus zu deuten, sondern die verwandten Züge zu beachten, deren es zahlreiche gibt. Das beginnt schon bei simplen körperlichen Dingen, wenn Großmann in seiner Autobiografie schreibt: „Ich war durchdrungen von meiner Hässlichkeit“,und Kraus, wie man weiß, seine geringe Körpergröße als dauernden Anreiz erlitt, über sich hinauszuwachsen; beide teilen sie die juvenile Liebe zu unglücklichen, gescheiterten Schauspielerinnen, deren Bild sie in ihrem liebenden Gedächtnis bewahren; beide schreiben sie einige ihrer besten Arbeiten über die österreichische Justiz, in deren Mühlen die Existenzen Unschuldiger zermahlen werden; und beiden gelingen ihre besten Polemiken wahrlich nicht, wenn sie einander befehden.

Da hat Kraus etwa behauptet, der für seine Käuflichkeit berüchtigte Publizist des Biedermeier, Moritz Gottlieb Saphir, von dem die „journalistischen Schalentiere und Schleimwürmer abstammen“, wäre der „Ahnherr aller Großmanns“ gewesen. Ebendies, dass er in der Tradition Saphirs stehe, hatte Großmann umgekehrt Kraus vorgehalten, „dem Papierzwerg“, der nicht wie er selbst das Kind armer Leute, sondern eines böhmischen Industriellen war, der in seinen Fabriken Häftlinge um einen Hungerlohn Papiersäcke habe kleben lassen: „Aus diesem zusammengeklebten Vermögen entspringt Krausens innere Freiheit.“ Der junge Großmann, muss man einfügen, hatte eine Reportage-Reise durch die Zuchthäuser der Monarchie unternommen und ein Buch verfasst, das reale Wirkung zeitigte und den Justizminister veranlasste, die Verhältnisse in den österreichischen Strafanstalten zu verbessern; ein Buch als Tat, welche sicher den Zuspruch vonKarl Kraus gefunden haben würde, wenn es, ja wenn es sich nicht eben um Buch und Tat Stefan Großmanns gehandelt hätte.

1925 feiert Großmann in Berlin seinen 50. Geburtstag mit Pomp und Trara. Ein Foto zeigt den Jubilar im Smoking, umgeben von der liberalen Elite der Weimarer Republik. Im selben Jahr wirft ihn ein Herzinfarkt nieder, und der Mann, der so rastlos immer neue Ideen verfolgte und von Walter Benjamin bis zu Franz Blei, vom konservativen Hofmansthal bis zum sozialrevolutionären Ernst Toller in den von ihm geleiteten Feuilletons viele der größten Geister seiner Zeit versammelte, sagt seinem öffentlichen Wirken just auf dessen Höhepunkt Adieu und verfasst einen „Nachruf“ auf sich selbst: „Er hat sich immer wieder der Gegenwart preisgegeben, und so verdarb er sich sein bisschen Ewigkeit.“

Er schrieb jetzt interessante, aber wahrlich nicht für die Ewigkeit geeignete Romaneund Dramen – und vor allem seine Autobiografie „Ich war begeistert“. Die legendäre Besprechung in der „Fackel“ beginnt mit den Worten: „Ich war angewidert.“ Zu solchem Urteil besteht kein Anlass, auch wenn das Buch manch kokette und eitle Passage hat. Großmann erinnert sich, wie er vor der Schule morgens von vier bis sieben Uhr in der Branntweinstube seiner Mutter Schnaps ausschenken musste, an die Arbeiter, die in die Fabrik zogen, und die Huren, die auf ihre letzten Freier warteten. Nicht ohne Stolz berichtet er, wie er kurz vor der Matura durchbrannte und sich hungernd die weite Welt eroberte. Er beendete sein Wanderleben und kehrte nach Österreich zurück, als er kurz vorder Jahrhundertwende glaubte, die Monarchie wäre in eine revolutionäre Krise geraten. „Nicht der Kahlenberg und nicht die Seen des Salzkammergutes riefen mich in die Heimat, sondern die großen politischen Kämpfe, bei denen ich nicht abseits stehen wollte. Beiläufig gesagt, die Jugend wird nie durch lyrische Gedichte, sondern nur durch dramatische Kämpfe heimatbewusst.“

Als gefragter Mitarbeiter der sozialistischen Presse und ermutigt vom Parteiführer Viktor Adler selbst, verwirklicht Großmann eine einzigartige Idee, die „Freie Volksbühne“:ein Theater für Arbeiter, die nicht politisch indoktriniert, sondern mit dem Besten bekannt gemacht werden sollten, was die Weltliteratur zu bieten hatte. Nach wenigen Jahren brachte es die Volksbühne auf 30.000 Abonnenten, die während der Arbeitswoche abends oder sonntags am Vormittag die Aufführungen besuchten. Die Volksbühne hatte jedoch kein eigenes Gebäude, musste sich stets in anderen Lokalitäten einmieten. In Großmanns Auftrag entwarf der Architekt Oskar Kaufmann den Plan für einen Theaterbau, der sich von der bürgerlichen Repräsentationsarchitektur unterscheiden sollte.

Es kam, wie es damals kommen musste und bis heute in Österreich der Brauch geblieben ist, wo immer ein Bahnhof, ein Festspielhaus, ein Museum errichtet wird: Das beste Konzept wurde durch Intriganten verhindert und die Initiatoren ihrer eigenen Ideen enteignet.

Ein großer Scheiternder

In diesem Falle waren es die mit der Luegerschen Administration verhaberten Architekten Fellner & Helmer, deren immer gleiches Opernhaus man heute nicht ohne nostalgisches Gefühl zwischen Lemberg, Odessa undSalzburg in jeder Stadt des einstigen Mitteleuropa betrachten kann, die auch in Wien alle Konkurrenten aus dem Feld schlugen. Sie erhielten den Auftrag, ohne sich mit der Idee einer proletarischen „Volksbühne“ auseinanderzusetzen, und verplemperten den kühnen Entwurf mit ihrem barocken Schnörkel. Großmann wurde aus seinem eigenen Unternehmen hinausgeekelt und übersiedelte 1913 verbittert nach Berlin. Die „Freie Volksbühne“ siechte ohne ihn bald dahin, aus dem verunzierten Theatergebäude wurde das sogenannte Renaissancetheater, in das kein Arbeiter mehr ging und das sich bald mit Operetten gegen den Untergang zu wehren hatte. 1933 musste Großmann aus Deutschland zurück nach Österreich flüchten, hatte der „Völkische Beobachter“ doch schon zehn Jahre vorher angekündigt: „Dieser freche Jude“ wird eines Tages „zum Tode durch den Strang verurteilt werden, obwohl auch ein Strick noch zu schade für ihn ist“.

Großmann verfolgte stets hochfliegende Pläne, mit denen er oft Schiffbruch erlitt. Auch am „Tage-Buch“, dessen Herausgeber und Miteigentümer er war, hatte er ab 1928 nichts mehr mitzureden. Selbst mit der Partei hat er gebrochen: „Ich habe in der sozialistischen Bewegung eine Jugendgeliebte gesehen, in deren Bann ich zwanzig Jahre lag. Nun wurde die Dame etwas dicklich und wollte zum Standesamt geführt werden.“ Er war auch ein großer Scheiternder, dieser Stefan Großmann, dessen Autobiografie, klug eingeleitet und editorisch wohl betreut, jetzt in einer neuen Ausgabe zu lesen ist. ■






Stefan Großmann

Ich war begeistert

220 S., geb., € 24,60 (Edition Atelier, Wien)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.06.2012)

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