Straflager

Ruslan Wachapow: „Das Straflager lässt dich nicht los“

 Ruslan Wachapow mit seiner Ehefrau. Beide engagieren sich heute für die Rechte von Strafgefangenen in der Organisation Russland hinter Gittern in der Stadt Jaroslawl.
Ruslan Wachapow mit seiner Ehefrau. Beide engagieren sich heute für die Rechte von Strafgefangenen in der Organisation Russland hinter Gittern in der Stadt Jaroslawl. privat
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Ruslan Wachapow verbüßte fünfeinhalb Jahre Haft in einer russischen Strafkolonie. Er erzählt von einem korrupten System, das die Insassen erniedrigt und gefügig macht – und sie selbst nach der Entlassung keine freien Menschen sein lässt.

Vor zehn Jahren, sagt Ruslan Wachapow, hatte er alles. Eine Ehefrau, zwei kleine Kinder, eine Dreizimmerwohnung. „Ein sorgloses Leben.“ Er arbeitete für ein Unternehmen als Einkäufer von Baumaterialien und fuhr einen Audi Q7. Er verdiente gut, sehr gut sogar. „Ich konnte mir einen 1000 Dollar teuren Anzug leisten, um damit einmal ins Restaurant zu gehen.“

Verhängnisvolle Pinkelpause. Was dem 39-Jährigen passiert ist, klingt zunächst unglaublich. Ein „komischer und schrecklicher Fall gleichzeitig“, wie sein Anwalt einmal sagte. Das ist ziemlich treffend. Das Verhängnis begann damit, dass Wachapow im September 2011 an einem – wie er sagt – „nicht ordnungsgemäßen Ort“ auf die Toilette ging. Er war im Auto unterwegs, seine Blase drückte, er hielt in einem Dorf an und ging in die Büsche. Hinter ihm erklang ein Lachen – drei Mädchen hatten ihn auf frischer Tat ertappt. Sie gaben später an, seinen „Hintern“ gesehen zu haben. Ein anderer Mann kam hinzu, man einigte sich darauf, die Polizei zu rufen. Wachapow wurde eine Verwaltungsstrafe aufgebrummt. Zwei Wochen später leiteten die Behörden plötzlich Ermittlungen wegen „sexueller Handlung an Minderjährigen“ ein. Eine Anwältin, die, wie Wachapow überzeugt ist, mit den Ermittlern unter einer Decke steckte, stellte ihm eine informelle Regelung des Falls ins Aussicht: Gegen die Zahlung von 200.000 Rubel würde ihm „nur“ eine Bewährungsstrafe drohen. „Ich hätte mir das leisten können“, sagt er. „Aber meine Überzeugung hat es mir nicht erlaubt, Bestechungsgeld für eine Tat zu zahlen, die ich nicht begangen habe.“

Als sich Wachapow beim Ermittlungskomitee über die Erpressung beschwerte, drohte man ihm dort, ihn „lang hinter Gitter zu bringen“. Was mehr als ein Jahr später passierte: Ein Gericht verurteilte ihn zu sieben Jahren im Straflager. Selbst in der Untersuchungshaft gab er sich nicht geschlagen und legte Beschwerde gegen das Urteil ein. Obwohl ein anderes Gericht später die Fälschung von Zeugenaussagen feststellte, wurde er doch für schuldig befunden. Das ursprüngliche Urteil wurde nur geringfügig abgemildert: fünfeinhalb Jahre Straflager. Im September 2013 trat Wachapow seine Haft in der Strafkolonie IK-1 in der zentralrussischen Stadt Jaroslawl an, knapp 300 Kilometer nordöstlich von Moskau.

Es ist ein Lager, das ein paar Jahre später wegen dort praktizierter Folter und Prügelorgien gegen Häftlinge in die Medien kam. Auch dank der Aussagen von Ruslan Wachapow.
Wachapow beschreibt seine Haftzeit als allmähliches Abgleiten in die Rechtlosigkeit. „Vom Moment der Untersuchungshaft an bist du kein Bürger mehr. Es ist die erste Bekanntschaft eines Menschen mit dem Gulag. Du hast nur noch das Recht zu schweigen und alles auszuhalten – die Vorbereitung auf ein Hundeleben.“ Offiziell existiert der Gulag, das sowjetische Lagersystem, in Russland natürlich nicht mehr. Doch Kontinuitäten sind bis heute zu spüren. Olga Romanowa, Gründerin der Gefangenen-Hilfsorganisation Russland hinter Gittern, nennt das System „unreformiert“. Zum russischen Lagersystem gehören die strenge interne Hierarchie und die unbedingte Unterordnung des Neulings, drakonische Strafen für kleinste Übertretungen, der Einsatz körperlicher Gewalt, das Schuften in lagereigenen Betrieben für ein paar Rubel. „Der Häftling gilt nicht als Mensch“, sagt der frühere Lagerinsasse Konstantin Kotow, der wegen der Teilnahme an nicht genehmigten Demonstrationen für eineinhalb Jahre hinter Gitter musste. „Der Sinn des Strafvollzugssystems besteht darin, dass es Kälte, Hunger und Ruhe gibt“, sagt Ex-Häftling Wachapow. Auch Olga Romanowa bestätigt: „Das Ziel ist: Die Menschen sollen sich fürchten. Das Gefängnis muss schrecklich sein.“

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