Ukraine

Szenen aus einem Land im Krieg: "Unser Leben wird nie wieder so, wie es war"

In Chuguiv flog Russland schwere Luftangriffe. Die Stadt liegt vor den Toren Charkiws, einer Millionenmetropole an Russlands Grenze.
In Chuguiv flog Russland schwere Luftangriffe. Die Stadt liegt vor den Toren Charkiws, einer Millionenmetropole an Russlands Grenze. Anadolu Agency via Getty Images
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Am Donnerstag wachten die Ukrainer und Ukrainerinnen im größten Krieg auf, den Europa in diesem Jahrhundert erlebt hat.

Wien/Kiew/Kramatorsk/Charkiw/Lemberg. Gegen fünf Uhr früh wurden sie aus dem Schlaf gerissen: die dreifache Mutter in Kiew, der Diplomat im Westen, die Übersetzerin im Süden, die Bewohner von Kramatorsk im Osten. Sie alle weckte der Krieg. Also der Kriegslärm. Und sie alle wachten in einer anderen Welt auf. Am Donnerstag war die Lage verworren. Aber eines stand ganz kategorisch fest, dass es ein „vor diesem 24. Februar“ gibt und ein Danach.

„Die Presse“ hat mit insgesamt mehr als einem Dutzend Augenzeugen in allen Landesteilen der Ukraine gesprochen. Sie war zum Lokalaugenschein in Kramatorsk und in Severodonetsk, in der Nähe der sogenannten Kontaktlinie, der Front, wie sie vor diesem 24. Februar verlaufen ist. Denn seit Donnerstag ist die Front fast überall: im Norden, im Süden, im Osten. Selbst im Westen schlagen Geschoße ein. Putin überzieht die Ukraine, ein Land, siebenmal so groß wie Österreich, flächendeckend mit Raketen. Er lässt die Panzer über die Grenzen rollen. Der ukrainische Präsident, Wolodymyr Selenskij, ruft deshalb zu den Waffen. Und er verhängt das Kriegsrecht. Viele Millionen Ukrainer stellten sich am Donnerstag wohl die immer gleiche Frage: Flüchten? Bleiben? Kämpfen?

Wie erklärt man das einer Vierjährigen?

Tetyana Ogarkova ging in der Nacht auf Donnerstag spät ins Bett. Die 42-Jährige vom Ukraine Crisis Media Center hatte ein „flaues Gefühl“ im Magen: „So, als ob etwas Furchtbares passieren wird.“ Frühmorgens hörte sie „seltsame Geräusche“. Es waren „Explosionen“. Ziele in Kiew wurden angegriffen. Der siebentgrößten Stadt in Europa. Im Jahr 2022.
Sie drehten den Fernseher auf und sahen Wladimir Putins Kriegserklärung. Sie überlegten, mit den Kindern – 3, 9 und 13 Jahren alt – auf ihren Zweitwohnsitz am Land zu fahren. Aber sie haben die Idee verworfen. Weil die Straßen bald verstopft waren. „Wir haben entschieden, dass es jetzt im Moment gefährlicher ist zu versuchen, Kiew zu verlassen, als zu Hause zu bleiben“, sagt die 42-Jährige. Sie bleiben.

Emily Denezhna geht. Der vierjährigen Tochter zuliebe. In aller Eile packen sie ein paar Sachen zusammen, schon um 6.30 Uhr sitzt die Familie im Wagen. Das Ziel: „Westwärts.“ Nur raus aus Kiew. Sie hoffen, bei Freunden ein paar Tage unterzukommen. Nicht einmal eine Zahnbürste nimmt Emily mit. „Alle haben gesagt, dass man schon im Vorfeld eine Tasche packen soll, falls man fliehen muss“, sagt die 33-Jährige. „Aber ich habe mich geweigert. Für mich war es so etwas wie ein letztes Stück Hoffnung, dass es doch nicht passieren würde.“ Auf den Straßen Autokolonnen, Tausende versuchen, aus der Stadt zu fliehen. Stundenlang stehen sie im Stau. Emilys Tochter versteht die Welt nicht mehr. Nur: Wie erklärt man einer Vierjährigen, dass plötzlich Krieg herrscht? „Ich habe gesagt, dass es böse Menschen gibt und gute Menschen, und dass die bösen den guten manchmal Schlimmes antun.“ Aber in Wahrheit, sagt die Übersetzerin, „bin ich sprachlos“. Ihre Hoffnung liegt nun auf der ukrainischen Armee, auf die sie stolz sei, wie sie sagt. „Wir haben bis zu 450.000 Kriegsveteranen. Jeder von ihnen ist bereit, dieses Land zu verteidigen.“

Dumpfe Detonationen Im Donbass

Um fünf Uhr morgens lärmt es in Kramatorsk: zuerst einige laute Explosionen kurz hintereinander, später das Rauschen eines Kampfjets und dann das kurze Knallen eines Flugabwehrgeschützes, dann wieder dumpfe Detonationen. So erwachten die Bewohner der Großstadt. Man hörte dann Nachrichten, checkte im Internet, rief Freunde und Familie an, um neuste Informationen zu bekommen. „Das Schlimmste ist nun eingetroffen“, sagt die Verkäuferin in einem Lebensmittelgeschäft zur „Presse“.

Weiter in die nahe Stadt Severodonetsk im Oblast Luhansk. Sie wurde evakuiert. Weil die Separatisten über die Kontaktlinie vorgestoßen waren. Kolonnen verließen die etwa 100.000 Einwohner umfassende Stadt. Dazwischen Militärlaster, gepanzerte Krankenwagen und ein kleiner Konvoi von Ärzte ohne Grenzen. Die Stadt ist wie ausgestorben. Auf den riesigen Platz mit Park im Zentrum verlaufen sich wenige Menschen. Die meisten wollen nicht sprechen und gehen mit abweisendem Gesichtsausdruck vorbei. Eine ältere Frau will ihrem Ärger jedoch Luft machen: „Acht Jahre wurde der Donbass beschossen. Jetzt fallen Bomben in der Ukraine und die ganz Welt regt sich auf.“ Die verbliebene Bevölkerung erwartet die Russen wohlwollend. „Unser Leben ist so schlecht, kein Geld und andauernd Krieg, wir wollen nur Frieden, und den könnten die Russen bringen.“ Diese Haltung ist die Ausnahme, entgegnet Bürgermeister Alexander Struick in seinem Büro. Die meisten Bewohner sind Ukrainer und unterstützen die Armee.

Auf der anderen Seite der früheren Kontaktlinie, in Donezk, der größten von Separatisten kontrollierten Stadt, hört ein Augenzeuge Gefechte. „Aber im Vergleich zu dem, was in der Ukraine gerade passiert, ist es hier richtig ruhig“, meint er. Eines fällt ihm auf: „Auf den Straßen von Donezk sieht man nur Alte und Frauen. Sehr wenige Männer. Die werden eingezogen oder verstecken sich.“

Fluchthilfe im Westen

Die Ukraine ist ein Riese. Ziemlich genau 1000 Kilometer Luftlinie trennen Donezk von Lwiw (Lemberg) im Westen des Landes. Dort wird bei der Flucht geholfen.
Die Koffer standen schon gepackt im Vorzimmer, kurz nach sieben Uhr saßen sie im Auto, das er ihnen in den Tagen zuvor organisiert hatte, ein paar Stunden später waren sie über der Grenze, wo sich gerade kilometerlange Staus bilden: So beschreibt Andreas Wenninger, wie er eine österreichische Austauschlehrerin und ihren Lebensgefährten am Donnerstagmorgen aus der Ukraine gebracht hat. Der Diplomat (53) ist in Lwiw. Die Autobusse nach Polen seien für die kommenden Tage vollkommen ausgebucht, erzählt er. Schon nach Kriegsbeginn im Osten 2014 seien mehr als zwei Millionen Ukrainer nach Polen geflüchtet. Dass sich diesmal viele weiter auf den Weg nach Österreich machen, glaubt er nicht.

Fliegeralarm im Schutzbunker

Der Krieg in der Ukraine hat viele Schauplätze. Mariupol etwa, wo die Übersetzerin am Vormittag noch am Telefon erzählt hat, dass es wieder ruhig würde in der 500.000-Einwohner-Stadt, und dann später schreibt, dass sie sich wegen Fliegeralarms in den Schutzbunker ihres Hotels geflüchtet hat. Oder die 30-Jährige aus Kiew, die erzählt, dass sie ihre Eltern in Charkiw, der zweitgrößten Stadt der Ukraine, gleich an der Grenze zu Russland, schon seit Wochen angefleht hat, die Millionenmetropole zu verlassen. Vergeblich. Die strategisch wichtige Großstadt wurde ganz heftig angegriffen. Die Eltern hätten sich mit Lebensmitteln eingedeckt und die Lage der Schutzbunker studiert, sagt sie. Sie wirkten „ruhig, jedenfalls nicht panisch“. Auch das gehört zu dieser Geschichte, dass viele Ukrainer eine Resilienz ausstrahlen, ja eine Tapferkeit.

Aber zugleich plagen sie Sorgen um die Liebsten. Stan Sokolovs Eltern zum Beispiel leben in Slowjansk in der Region Donezk. Die Stadt war schon während des Konflikts 2014 ein Kriegsschauplatz. Er erreicht sie telefonisch. „Ich habe sie gedrängt, nach Kiew zu kommen. Aber sie haben gesagt, dass es überall Angriffe gebe, die Straßen sind zu gefährlich.“ Die Eltern bleiben in Slowjansk.

Sokolov selbst lebt in in einem Dorf namens Sasymja etwa 30 Kilometer nordöstlich der Hauptstadt Kiew. Von dort aus sieht er Nachbarn in ihre Autos steigen, die den Ort verlassen wollen. Vor allem jene, die Kinder haben, fliehen. Aber viele bleiben. Auch er selbst. Panik regiert auch hier nicht. Wenn Sokolov aus dem Fenster blickt, sieht er Nachbarn mit ihren Hunden spazieren gehen. Trotzdem weiß er: „Unser Leben wird nie wieder so sein, wie es war.“

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