Ukraine

Wie ein Ukrainer das erste Kriegsjahr (üb)erlebte

Nach dem ersten Kriegsjahr ist Schenja Schibalow erschöpft. Doch er könnte erneut an die Front (im Bild: Gebiet Charkiw) geschickt werden.
Nach dem ersten Kriegsjahr ist Schenja Schibalow erschöpft. Doch er könnte erneut an die Front (im Bild: Gebiet Charkiw) geschickt werden.AFP via Getty Images
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Wie Schenja zu Soldat Schibalow wurde: Er kämpfte für den Frieden in der Ukraine. Der Krieg ließ ihn zur Waffe greifen. Jetzt fürchtet er die Zukunft.

Es ist sechs Uhr morgens, als Jewhen Schibalow ein Telefonanruf weckt. Ein Freund ist dran. „Was machst du?“, hört er ihn mit aufgeregter Stimme fragen. „Was soll ich tun, ich schlafe“, antwortet Jewhen. „Der Krieg hat begonnen!“, sagt sein Freund. Jewhen kann es nicht glauben. Er tritt ans Fenster seiner Kiewer Wohnung. Draußen ist es dunkel. Jetzt hört er die Explosionen und das dunkle Grollen. Das, was er bis zuletzt nicht glauben wollte, ist eingetreten: Russland hat seine Invasion gestartet.

Jewhen, der von allen Schenja genannt wird, stammt aus der Stadt Donezk im ostukrainischen Donbass. Wir lernen uns 2011 kennen. Er arbeitet damals als Korrespondent für die angesehene ukrainische Wochenzeitung „Dserkalo Tyschnia“. Als 2014 russische und prorussische Kräfte einen Krieg im Donbass entfachen, wird er humanitärer Helfer. Journalist zu sein im von den Separatisten kontrollierten Donezk, zumal für ein Kiewer Medium, ist zu gefährlich geworden. Mit anderen aktiven Donezkern gründet er die Gruppe „Verantwortungsvolle Bürger“, die bedürftige Bewohner mit Hilfsgütern unterstützt. 2016 verbieten die Kreml-treuen Machthaber die politisch unabhängige Organisation und weisen Schenja aus dem abtrünnigen Gebiet aus.

Er beginnt ein neues Leben in Kiew und wird Mitarbeiter des Schweizer Zentrums für Humanitären Dialog, das sich für eine Lösung des Konflikts im Donbass einsetzt. Schenja kämpft mit Worten für den Frieden in seinem Land: Er vermittelt, analysiert, schreibt. Trotz seines Heimatverlustes ist er nicht verbittert; er ist hoffnungsfroh, geistreich, humorvoll. Welche Pläne hatte er für 2022? „Ich dachte, es wird ein großartiges Jahr“, erzählt der hagere 41-Jährige. Beruflich läuft es bestens: Seit Jahresbeginn ist er in leitender Position tätig und verdient deutlich mehr. Seine Frau und er planen im April eine Reise nach Istanbul. „Wir hatten Ticket und Hotel schon gebucht.“ Aus all dem wird nichts.

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