„Freinet ist kein Methödchen“

Veronika Schmidt sprach mit Susanne Herker, Leiterin des Instituts für innovative Pädagogik an der Kirchlichen Pädagogischen Hochschule in Graz.

Die Presse:Célestin Freinet wird eine Ablehnung gegen die Erziehungswissenschaften nachgesagt. Erwidern die Erziehungswissenschaften diese Ablehnung?

Susanne Herker: Die Erziehungswissenschaften stellen sich nicht gegen Freinet. Man muss bedenken, dass seine Ablehnung der Erziehung der 20er-Jahre galt. Freinet arbeitete mit den Kindern und entwickelte daraus seine Methoden, mit denen die heutige Pädagogik grundsätzlich d'accord geht. Der letzte Stand der Wissenschaft ist, dass Kinder sich in angemessenen Freiräumen bestens entwickeln, es aber immer Grenzen geben muss. Es ist ein Irrglaube, dass Reformpädagogik den Kindern keine Grenzen setzt.

Kann Lernen nach eigenständigen Ideen der Schüler zielführend sein? Wird dabei nicht unsystematisch oder ineffizient gelernt?

Herker: Es ist eine falsche Vermutung, dass so etwas unsystematisch abläuft und dass die Kinder tun und lassen, was sie wollen. Es ist die Herausforderung an den Lehrer, den Überblick zu behalten, um den Bildungsauftrag zu erfüllen. Das bedarf einer veränderten Lehrerrolle, in der man die Impulse der Kinder zulassen und dabei Systematik hineinbringen kann. Freinet-Pädagogik ist ja kein „Methödchen“, sondern ein Gesamtkonzept des forschenden Lernens.

Sind Kinder überfordert, wenn sie aus einer großen Auswahl des Stoffes alles selbst bestimmen sollen?

Herker: Freinet beruht auf der Akzeptanz der Heterogenität. Im alten Lehrerbild gibt es die Fiktion, eine homogene Gruppe vor sich zu haben. Dabei sind Kinder in homogenen Gruppen oft unterfordert, z.B. Schüler, die in der ersten Klasse schon lesen können. Wenn die Heterogenität akzeptiert wird, gibt es keine Überforderung des Einzelnen. Kein Kind teilt sich seinen Wochenplan so ein, dass es überfordert ist. Da braucht es wieder den Lehrer, um die individuellen Stärken und Schwächen der Kinder zu betreuen. Ziel sind ja Kompetenzen der Kinder und nicht reproduzierbares Wissen.

Ein Klassenlehrer kann die Freinet-Methoden gut in einer Volksschule einbauen. Sehen Sie Risiken, dass die Erziehung nach Freinet den Schülern die Umstellung auf die Mittelschule erschwert?

Herker: Diese Frage ist immer berechtigt, aber Kind-orientierte Pädagogiken sollen nicht den höheren Schulen zum Opfer fallen, die sich nicht bewegen und sich nicht an gehirnphysiologischen und lernpsychologischen Erkenntnissen orientieren. Der Übertritt macht besonders dann Schwierigkeiten, wenn die Schüler mit erhöhter Passivität umgehen müssen. Was bei der Umstellung gut ankommt, sind die Kompetenzen, die Kinder von Freinet mitbringen: Mit Eigeninitiative und Lust am Lernen tut man sich in höheren Schulen sicher leichter.

Gibt es Untersuchungen, welche Lernform die Entwicklung des Kindes am besten fördert?

Herker: In Studien über gehirngerechtes Lernen ist eindeutig zu lesen, dass Lernen mit höherer Eigeninitiative nachhaltiger ist. Man muss sich nur Fachzeitschriften wie „Pädagogik“, „Spektrum“ oder „Science“ ansehen, wo immer wieder gezeigt wird, dass handlungsorientierter Unterricht zielführend ist. Wissenschaftler wie Elsbeth Stern, Manfred Spitzer oder Hans Schachl weisen darauf hin, dass man den verschiedenen Lerntypen der Kinder nur in unterschiedlichen Lernformen gerecht werden kann. Wer sagt denn, dass still sitzende Kinder gut lernen können? Spitzer konnte wissenschaftlich nachweisen, dass sich die Aktivität des Gehirns vergrößert, wenn man mit allen Sinnen lernt. Es ist seit Jahrzehnten bekannt, dass es nicht eine Standard-Methode für alle geben kann.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.11.2007)


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