„Capernaum“: Ein Straßenbub klagt Gott an

Um Authentizität bemüht: Sechs Monate lang drehte Regisseurin Nadine Labaki mit Laiendarstellern mitten in Beirut.
Um Authentizität bemüht: Sechs Monate lang drehte Regisseurin Nadine Labaki mit Laiendarstellern mitten in Beirut.Alamode Film
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„Capernaum“ erzählt von Zain, der in Beirut in der Gosse landet und einen Prozess gegen seine Eltern führt – weil sie ihn geboren haben. In Cannes gab es dafür den Jurypreis.

Für den Fotografen im Jugendgefängnis entspannt der Knabe sein sonst von Kummer gezeichnetes Gesicht. Erstmals lächelt er. Wenn man seinen Leidensweg nicht kennen würde, könnte man das Standbild, zu dem die letzte Einstellung aus Nadine Labakis „Capernaum“ erstarrt, auch für die Werbeanzeige eines Spendenvereins halten.

Die Geschichte dieses Buben namens Zain wird davor in Rückblenden erzählt. Nachdem er von zu Hause abgehauen ist, trifft er in den heruntergekommenen Vierteln von Beirut auf Erwachsene, die ihn betrügen, ignorieren, im Stich lassen oder mit kleineren Zuwendungen abspeisen. Zain ist kein Ausreißer wie Oliver Twist, der trotz seiner Herkunft aus der Gosse durch bürgerliche Manieren glänzte. Er raucht regelmäßig Zigaretten, legt sich mit jedem an und pflegt eine vulgäre Ausdrucksweise.

Die einzige erwachsene Sympathieträgerin, die sich seiner vorübergehend annimmt, ist eine Immigrantin aus Äthiopien, die ihren frisch geborenen Sohn in einem Einkaufswagen versteckt, um von den Behörden nicht als illegale Einwanderin enttarnt und von ihrem Nachwuchs getrennt zu werden. Ein dubioser Dokumentenfälscher mit Verbindungen zur Schlepperszene bietet ihr wiederholt an, ihren Sohn wohlhabenden Eltern zu verkaufen. Sie lässt ihn stattdessen bei Zain, als sie wieder einmal fliehen muss. Nach ihrer Gefangennahme durch den Grenzschutz presst sie sich die Milch aus den Brüsten. Sie will nicht als schlechte Mutter dastehen. Zur gleichen Zeit füttert Zain das hungernde Kleinkind mit gezuckerten Eiswürfeln. Weil kein Kinderwagen zur Verfügung steht, muss er es wie einen Hund an einem Seil festbinden. In solchen Momenten gewinnt das letztes Jahr in Cannes mit dem Jury-Preis prämierte Sozialdrama an einprägsamer Intensität.

Die Folgen einer Zwangsheirat

Die Kritik an der restriktiven Flüchtlingspolitik lässt sich auch auf andere Länder übertragen, doch Labaki verliert nie die spezifischen Bedingungen in ihrem Heimatland aus den Augen – im Libanon prägt männlicher Chauvinismus besonders stark die Gesellschaft. Zain ist von daheim ausgerissen, weil die Eltern seine ungefähr gleichaltrige Schwester an den pädophilen Vermieter abgetreten haben, der von der vielköpfigen Familie sklavische Unterwerfung verlangt. Die Folgen dieser Zwangsheirat übertreffen Zains schlimmste Befürchtungen, doch die um Hilfe gerufenen Behörden schreiten nicht ein.

Zain versucht den Mann zu töten, wird zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt – und strengt einen medienwirksamen Prozess gegen seine eigenen Eltern an. Er will sie dafür zur Verantwortung ziehen, dass sie ihn zur Welt gebracht haben. Eine existenzialistische Beschwerde. Der depressiv gewordene Bub verbindet sie mit einer Anklage gegen Gott und dessen Teilnahmslosigkeit.

Ähnlich wie in den Filmen des italienischen Neorealismus bleibt die Kamera auch hier den gesamten Film über auf den kindlichen Helden konzentriert, während der Einsatz von Laiendarstellern und die semidokumentarische Ästhetik den Eindruck einer Reportage erzeugen. Sechs Monate haben die Dreharbeiten gedauert, 520 Stunden gefilmtes Material haben sie beansprucht. Das zeugt vom Bemühen um Authentizität, auch wenn es noch keine Glaubwürdigkeit garantiert. Diese bezieht der Film „Capernaum“ vielmehr aus der Komplexität, mit der er gesellschaftliche Zusammenhänge, Konflikte und soziale Machtgefälle beschreibt. Eine Komplexität, die vorschnelle moralische Werturteile gar nicht zulässt.

KAPERNAUM

Etymologie. Die antike Stadt Kapernaum (auch Kafarnaum) im Norden Israels war ein Wohnort Jesu, der sich dort gemäß den Evangelien niedergelassen hat, nachdem er Nazareth verlassen hatte. Eines der Wohnhäuser, die bei Ausgrabungen gefunden wurden, gilt als das Haus des Petrus. Im Arabischen und Französischen hat sich das Wort Capharnaüm als Sinnbild für einen Ort voller Chaos und Unordnung etabliert – hergeleitet von den Menschenansammlungen im Haus Jesu, womöglich aber auch aufgrund der phonetischen Ähnlichkeit zu „cafourniau“ (Rumpelkammer).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.01.2019)

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