Wenn wilde Ideen zu Kunstgeschichte werden

Teil der Ausstellung: Ein minutiöser Nachbau jener Schau, mit der Szeemann 1974 ein liebevolles Porträt seines altösterreichischen Großvaters, eines Friseurs, arrangierte – inklusive Gerätschaften und Perücken.
Teil der Ausstellung: Ein minutiöser Nachbau jener Schau, mit der Szeemann 1974 ein liebevolles Porträt seines altösterreichischen Großvaters, eines Friseurs, arrangierte – inklusive Gerätschaften und Perücken.Kunsthalle Düsseldorf
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Der legendäre Ausstellungsmacher und Universalist Harald Szeemann war Urbild für den in die Krise gekommenen Traumjob Kurator. Die Schau „Museum der Obsessionen“, derzeit in Düsseldorf, zeigt sein gigantisches Archiv.

Als Expeditionsleiter, Inszenator und Medizinmann des Kunstbetriebs erlangte der Kurator im späten 20. Jahrhundert eine machtvolle Mittlerrolle. Den Stars im Kuratorenzirkus gelang es, neue Szenen und Namen durchzusetzen und randständige ins Licht zu holen. So wurde der Kurator zum Aushängeschild unzähliger Biennalen zwischen Brasilien und Korea, risikoreich im Off-off-Milieu, geschmeidig dort, wo Kunst als elitäres High-End-Produkt umtanzt wird. Sein konkretes Arbeitsprofil (Kuratorinnen erhielten erst seit Catherine Davids Leitung der Documenta von 2000 internationale Definitionsmacht) blieb unscharf, was den Nimbus nur steigerte: ein Traumberuf ohne fixe Checkliste. Mut zur Subjektivität und großen Ansage gehören ebenso dazu wie Gespür für übernächste Tendenzen. Aber auch so pragmatische Fähigkeiten wie Networking, Reisefreudigkeit und Krisenmanagement.

In den letzten Jahren ist der Kurator jedoch ins Gerede gekommen. Weltweit suchen Tausende Absolventen von „curatorial studies“ nach Jobs. Und so mancher Großkurator wurde als Poseur und Phrasenjongleur entlarvt. Zunehmend wird die Selbstherrlichkeit mancher Kuratoren infrage gestellt. Doch Medien, Museumsleiter und Kulturpolitiker wollen auf den Sonnenglanz berühmter Trendspione nicht verzichten.

„Hang zum Gesamtkunstwerk“

Als Urbild und Prototyp des weltweit tätigen, nur sich selbst verpflichteten, unersättlich neugierigen Kurators gilt der knorrige, schlitzohrige Schweizer Harald Szeemann (1933–2005). Als Einmannlabor dachte er sich rund 150 Ausstellungen aus, etliche wie „Der Hang zum Gesamtkunstwerk“, die grandiose Wiener-Festwochen-Schau „De Sculptura“ und seine die Kunst völlig entgrenzende Documenta von 1972 haben historischen Rang. Allerdings bezeichnete er sich nie als Kurator, sondern unprätentiös als „Ausstellungsmacher“ – in Analogie zum „Filmemacher“, ein Ausdruck seiner 68er-Prägung. Das hieß auch, nicht nur Ideen in den Ring zu werfen, sondern sich um alle Schritte der Umsetzung selbst zu kümmern. Szeemann selbst über sein Rollenbild: „Manchmal ist man Diener, manchmal sein eigener Assistent, manchmal berät man Künstler – und bei Themenausstellungen ist man Erfinder und Autor.“ Grundtugenden seien „Enthusiasmus und Liebe“. Auch solche zugleich demütigen und pathosreichen Sprüche machten ihn zum Guru für zahllose Nachahmer und Nachfolger.

An Szeemanns ausuferndes Lebenswerk erinnert eine Schau, die nach Los Angeles und Bern in Düsseldorf Station macht. Für die Fangemeinde ist sie ein Fest. Doch einem stets sich selbst begeisternden Augenblicksmenschen kann sie nur indirekt gerecht werden. Weil Ausstellungen nur beschränkt reanimiert werden können, auch, weil mit den Telefonnummern vieler Olympier der neueren Kunstgeschichte bekritzelte Notizzettel in Vitrinen auf Distanz bleiben müssen.

In einer liegt Szeemanns Unabhängigkeitserklärung von 1969, der Stempel mit der Tätigkeitsbezeichnung „Agentur für geistige Gastarbeit“. Nachdem er seinen festen Job als Direktor der Kunsthalle Bern verloren hatte, die er in eine chaotische Experimentierbühne verwandelt hatte – mit der ersten Fettecke von Beuys, einer frühen Gebäudeverpackung von Christo und einem ungenehmigten Straßenaufriss des Land-Art-Künstlers Michael Heizer –, erfand er sich als an keine Institution gebundenen Freigeist.

Nachlass ans Getty Institute verkauft

Grundlage der Schau ist das gigantische Archiv, das Szeemann in einer einstigen Uhrenfabrik im Tessin anhäufte. 700 Laufmeter Regale, Tische, Container. Hier akkumulierte er seine 40 Jahre Arbeitsbiografie. Schutt oder Schatz? Nach dem Tod im Jahr 2005 blieb lang offen, was damit geschehen sollte. Als sich Szeemanns Familie dafür entschied, den Nachlass ans finanzstarke Getty Research Institute in Los Angeles zu verkaufen, gab es in der Schweiz patriotisches Murren. Doch Szeemann war immer Internationalist. Und kein staatliches Archiv hätte diese Materialmenge bewältigen können. Doch auch in L. A. benötigte ein Spezialistenteam sieben Jahre für die Inventarisierung und Erschließung. Die Bannung dieser papierenen Monumentalität ist auch ein Nekrolog auf die Ära analoger Wissenslabyrinthe. Alles real, nicht in Realzeit. Die übernächste Kuratorengeneration checkt mit dem Smartphone.

„Es gilt nun, die Spinner zu finden“

Ausstellungen sind grundsätzlich vergänglich. Die Kunstwerke bleiben, die sie verknüpfenden Ideen verdampfen. Vielleicht liegt es an Szeemanns kantigem Profil, dass sein unruhiger Intellekt noch spürbar ist. Dazu trug auch seine Sprachlust bei, die ihn bis heute wirkmächtige Begriffe wie „individuelle Mythologien“ oder „Museum der Obsessionen“ finden ließ. Als obsessiver Kunsterweiterer begleitete er einige Kunstströmungen der Nach-Warhol-Ära, speziell Post-Minimalismus, Happening, Concept-Art und Medienkunst. Hauptsache, er überschritt den Kanon, bis hin zu Kunstfernem und Kuriosem. Im Katalog liest man, Szeemann habe „mit Hirngespinsten jongliert, fremden, aber auch eigenen“, gemäß dem Arbeitsprinzip: „Es gilt nun die Spinner zu finden . . .“

Die anarcho-esoterischen Aussteiger etwa, an die seine auch im Wiener 20er-Haus gezeigte Sensationsausstellung „Monte Verità“ erinnert hat, machte er nachträglich ebenso berühmt wie ihren Zufluchtsort bei Locarno. Er begeisterte sich für Beuys und Serra, Adolf Wölfli, Rudolf Steiner, die Wiener Aktionisten und den Postbeamten Cheval. Dieser mauerte 32 Jahre lang einen idealisierten Palast, den Szeemann als raumfüllendes Modell für seine alle Rahmen sprengende Utopien-Weltausstellung „Der Hang zum Gesamtkunstwerk“ nachbauen ließ. Nach 35-jähriger Deponierung ist es nun wieder on the road.

Es ist riskant, eine Figur wie Szeemann posthum in einen Rahmen zu zwingen, zumal seine Sache eher wilde Ideen waren, weniger die Werkauswahl. Doch es ist letztlich seine Unberechenbarkeit, die ins eigentliche Herz der Ausstellung führt. Denn diese bietet neben der geradlinigen Dokumentation eine Sensation an: die minuziöse Rekonstruktion der radikalen Ausstellung, mit der Szeemann 1974 in sein privates Universum lockte – ein in Szeemanns Berner Wohnung arrangiertes, mit Gerätschaften und Perücken garniertes, liebevolles Porträt seines altösterreichischen Großvaters, eines Coiffeurs, Erfinders und Sammlers („Ein Pionier wie wir“). Was nach Heimatmuseum mit hektografierten Textzetteln aussah, war mit verschmitzten Einschüben durchsetzt, etwa mit Überschriften à la „Sein Beitrag zum Triumph der Schönheit“.

In Bern, wo diese wundersame Ausstellung in der originalen Wohnung nachgestellt werden konnte, keuchte man die enge Winkeltreppe eines uralten Bürgerhauses hoch, um sich in einer Sonderwelt verzaubern zu lassen. In Düsseldorf musste man sie, als handle es sich um ein Kunstwerk wie das „Mouse Museum“ von Claes Oldenburg im Wiener Mumok, als Installation in eine Halle stellen. Und plötzlich wird die leidenschaftliche Lebensspur eines Vitalisten zum dokumentarischen Bühnenbild.

Kunsthalle Düsseldorf: „Museum der Obsessionen“, „Großvater: Ein Pionier wie wir“, bis 20. 1.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.01.2019)

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