Jüdisches Wien: Ein Fotoschatz wird gehoben

Charlotte Bühler, Pionierin für Kinderpsychologie, 1925 fotografiert im Atelier Setzer.
Charlotte Bühler, Pionierin für Kinderpsychologie, 1925 fotografiert im Atelier Setzer.(c) Imagno/picturedesk.com
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Das vollständig erhaltene Archiv des Promi-Fotoateliers Setzer wird jetzt aufgearbeitet und online gestellt. Es ist in Europa einzigartig. Man hofft auf aktive Mithilfe.

Es ist eine Tradition, die trotz lückenloser Handyfotodokumention der Leben im Bürgertum heute noch gepflegt wird: das professionelle Familienfoto, das professionelle Weihnachtskartenfoto. Anfang des 20. Jahrhunderts zeigte der Gang ins jeweils angesagte Fotostudio der Stunde, dass man zur „Gesellschaft“ dazugehörte, hier ließ man sich zur Hochzeit inszenieren, die Kinder porträtieren oder einfach in der neuesten Garderobe festhalten.

Im Historismus bevorzugte man in Wien dafür das Fotoatelier Adèle, das von Adele Perlmutter geführt wurde – das Wiener Fotoinstitut Bonartes plant diesen Mai eine Adèle-Ausstellung. Ab 1905 wurde Adèle abgelöst von neuen, innovativeren Fotostudios, denen von Clemens Kosel und der berühmten Madame D'Ora. 1911 kam noch der junge Franz Xaver Setzer dazu, der über seinen Lebenspartner, einen Burgschauspieler, rasch Zugang zu den begehrten Kunden bekam, die Popularität versprachen: den Künstlern. Industrielle, Bürgertum, Adel, aber auch Wissenschaftler folgten ihren Stars, Operndiva Maria Jeritza, Komponist Giacomo Puccini, Tänzerin Grete Wiesenthal, Schriftsteller Arthur Schnitzler. Sie alle ließen sich bei Setzer fotografieren.

Fulminantes Gesellschaftsporträt

Rund 4500 Personen findet man in den Registerbüchern dieser Zeit, 24.000 Glasnegative ergeben ein fulminantes Porträt der Wiener Gesellschaft der 1910er- bis 1930er-Jahre. Dass dieses Archiv, diese Bücher und diese insgesamt tonnenschweren Glasplatten vollständig erhalten sind, ist das Einzigartige an dem Fotostudio Setzer, das nach dem Tod des Namensgebers, 1939, von seiner technischen Atelierleiterin Marie Karoline Tschiedel weitergeführt wurde. Die Familie Tschiedel hat dieses Erbe nach dem Tod Marie Karolines 1980 bewahrt: Man behielt die Glasplatten, die Kamera und beließ auch das Tageslichtstudio im Originalzustand. Es liegt hinter dem Volkstheater und ist als Veranstaltungsort nutzbar. Jetzt soll dieser Schatz auch inhaltlich aufgearbeitet werden.

Dafür hat sich ein illustres Expertenteam aus Genealogie, Fotogeschichte und Historik zusammengefunden, darunter Georg Gaugusch, Wolf-Erich Eckstein, Marie-Theres Arnbom und Gerald Piffl. Bei einer Präsentation am Donnerstag im Jüdischen Museum wurde erstens erklärt, was passieren wird: Alle Fotos sollen nämlich online zugänglich gemacht werden. Die Namensliste, die laufend aktualisiert wird, ist es jetzt schon. Denn zweitens hofft man auf Mithilfe der Nachfahren – die Identifizierung einerseits und die Recherche der Biografien andererseits sind sogar für verästelungsverliebte Genealogen, die eigentlich Biochemiker wie Gaugusch sind, eine Challenge.

„Emotionalität nicht unterschätzen“

Es wird jedenfalls dauern, so Gaugusch. Man hoffe auch noch auf stärkere Finanzierung, etwa von der Stadt Wien, die bisher fast völlig ausließ. Die Idee hinter all dem sei ja, vor allem den Nachkommen der von den Nazis Vertriebenen und Ermordeten die Bilder ihrer Vorfahren zurückzugeben, die hier im Setzer-Archiv bisher vielleicht sogar ohne ihr Wissen erhalten wurden. „Das darf man von der Emotionalität her auch nicht unterschätzen.“ Dabei geht es vor allem auch um heute weniger bekannte Namen.

Das wissenschaftliche Interesse an diesen zeige auch einen Shift in der Forschung, betont Gaugusch. Ein Shift, der viele Lücken offensichtlich werden lässt: Bis heute existiere kein Bewusstsein für den Wert alltäglicher historischer Fotografie, so Gaugusch. Immer noch kommt es vor, dass man ganze Glasplattenarchive auf Müllhalden findet. Auch der Großteil des Archivs von Madame D'Ora ist nicht erhalten: Als die Österreichische Nationalbibliothek um 1960 das Archiv angeboten bekam, suchte man sich aus 70.000 Glasplattennegativen nur die heraus, auf denen Prominente abgebildet waren. Immerhin noch 2500. Setzer und D'Ora waren übrigens befreundet. Im Setzer-Archiv gibt es einige D'Ora-Fotos, die sie dem Kollegen geschenkt und gewidmet hat.

Der jeweils aktuelle Stand der Namensliste ist unter www.wer-wien-prägte.at abrufbar.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.01.2019)

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