Liliom in jenseitiger Selbsterfahrungsgruppe

Liliom (Jörg Pohl) steht an der Wand im Fegefeuer. Ein Tor trennt ihn von Himmel, Hölle und der Welt, aus der er sich durch Selbstmord verabschiedet hat.
Liliom (Jörg Pohl) steht an der Wand im Fegefeuer. Ein Tor trennt ihn von Himmel, Hölle und der Welt, aus der er sich durch Selbstmord verabschiedet hat.(c) APA/BARBARA GINDL (BARBARA GINDL)
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Sensibel und kurzweilig inszenierte der Ungar Kornél Mundruczó das 110 Jahre alte Stück seines Landsmanns Ferenc Molnár. Die Koproduktion mit dem Hamburger Thalia-Theater ist durchaus gelungen. Ein toller Abend.

Im Originaltext von Ferenc Molnár dauert es ziemlich lang, bis sein tragikomischer Titelheld Liliom im Fegefeuer landet. Erst sieht man den so brutalen wie beliebten Hutschenschleuderer bei der Arbeit im Budapester Stadtwäldchen. Er lernt das Dienstmädchen Julie kennen, gerät in Konflikt mit seiner eifersüchtigen Arbeitgeberin und öfters auch mit der Polizei. Bald ist er ein Arbeitsloser, der seine neue Partnerin prügelt. Ihr Verhältnis ist ambivalent, eine abgründige Passion. Als Liliom erfährt, dass Julie ein Kind bekommt, entschließt er sich, bei einem Raub mitzumachen. Der misslingt kläglich. Liliom bringt sich um.

Erst in der sechsten Szene der „Vorstadtlegende in sieben Bildern“ landet er also im Jenseits, in der Amtsstube für Selbstmörder, die eine zweite Chance kriegen: Einsichtige dürfen für einen Tag zurück auf die Erde, um zu beweisen, dass sie auch gut sein können. Es wäre nicht Molnár, wenn sein Protagonist im siebten Bild nicht auch diese Gelegenheit zur Rehabilitierung jähzornig verpasste.

„Ein Teil des repressiven Patriarchats“

So viel Geduld hat Kornél Mundruczó nicht. In seiner Inszenierung, die am Samstag bei den Salzburger Festspielen auf der Halleiner Pernerinsel Premiere hatte, ist Liliom (Jörg Pohl) schon zu Beginn tot: „Safe Space“ steht auf dem Metalltor, das Verstorbene von der Welt – oder von Himmel und Hölle – trennt. Sie liegen auf dem Boden, Musik (Xenia Wiener) wie aus einem Science-Fiction-Film erklingt. Liliom will hier raus, doch das ist nicht so einfach. Man muss sich dieses Jenseits als Mischung aus Bürokratie und Selbsterfahrungsgruppe gender-origineller Figuren vorstellen. Zwischen den Szenen kehrt er in dieser Aufführung immer wieder dorthin zurück. Dann stehen auf dem Tor Schlagworte wie etwa „The Wall“ oder „The Shadow“.

Passt solch eine technisierte Welt überhaupt zu dieser Groteske? Wird nicht allzu künstlich versucht, einen weltberühmten Klassiker ins Heute zu bringen? Nein. Die Zwischenspiele, die im Kontrast zu den übrigen Bildern stehen, sind großteils treffsicher gemacht. Mundruczó ist ein packendes, zwei Stunden dauerndes Kunststück gelungen, in dem er viel Verständnis für Molnárs Drama zeigt (das einst von Alfred Polgar kongenial ins Deutsche übersetzt wurde). Nur wenige Stellen, in denen neuer Text (von Kata Wéber) eingefügt wird, der aus den Figuren gegenwärtige machen will, wirken ein wenig deplatziert oder gar fade. Sie bleiben dann ein Fremdkörper. Einige Gags sind richtig gut, etwa der: Liliom soll zur Strafe 100 Mal schreiben: „Ich bin Teil des repressiven Patriarchats.“ Er gibt bald auf.

Dieser Abend ist fantasievoll, intelligent arrangiert, mit einem originellen Bühnenbild Monika Pormales, wie sich bereits nach der ersten Öffnung des Tores zeigt. Zwei gigantische Roboterarme stehen auf der spiegelnd schwarzen Bühne und bauen ein naturalistisches Set auf. Sie umgeben eine Bank hinten im Zentrum mit blühenden Bäumen. Schon sind wir im Stadtwäldchen und sehen, wie die jauchzenden Dienstmädchen Julie (Maja Schöne) und Marie (Yohanna Schwertfeger) schnurspringen. Sie umschwärmen Liliom. Frau Muskat (Oda Thormeyer) geht dazwischen. Die Ringelspiel-Besitzerin will ihren Star-Ansager zurück. Der entscheidet sich für Julie. Und sie sich für ihn. Total. Es scheint absichtslos, doch Pohl und Schöne, hilfreich flankiert von Schwertfeger und Thormeyer als lustigen Figuren, signalisieren: Das ist mehr als nur schneller Sex, da ereignet sich hinter der Fassade, hinter Lilioms Abgebrühtheit und Julies fast perverser Selbstaufgabe, eine bleiche, unglückliche, tiefe Liebe. Selbst Frau Muskat zeigt Herz, als Liliom schon tot ist, als sie Julie vergeblich helfen will. Eine fantastische Ensembleleistung. Schöne brilliert als herrlich eigenwillige Julie, Liliom wird von Pohl als facettenreicher Strizzi gespielt. Das Rabiate ist nur ein kleiner Teil davon.

Roboterarme mit Eigenleben

Erfindungsreich werden auch die Roboter eingesetzt. Sie entwickeln mit blinkenden Lichtern Eigenleben, bekommen am Ende, im lang anhaltenden und herzlichen Beifall, sogar Sonderapplaus. Sie hängen zum Beispiel dem Liebespaar einen Vollmond in die Szene, machen aus einer Wand einen Video-Screen, auf dem man sieht, was in der Holzbaracke vor sich geht. Eng ist es dort, kaum auszuhalten. Kein Wunder, dass Liliom in die Neue Welt flüchten will. Doch er endet tot in einer Holzkiste, die die Roboter in die Mitte stellen. Zuvor fällt er ins Wasser, in einen kleinen Pool, in dem auch ein Krokodil aus Plastik und mehrere Figuren landen. Ausgelassen wird geplanscht.

Bewegend hingegen der stark veränderte Schluss: siebtes Bild. Der Titelheld darf zurück auf die Erde: Julie und die gemeinsame Tochter Luise (Paula Karolina Stolze) unter einer aufblasbaren, transparenten Kuppel. Liliom schaut sehnsüchtig hinein. Kurz darf die Tochter raus. Julie kommt nach. Die beiden wollen ihm Schnurspringen beibringen. Ob er das erlernen wird? Ob sie sein Herz spüren? Jetzt? Gejauchzt wird nicht mehr.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.08.2019)

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